Am 12.08.2025 um 10:31 schrieb Joseph Hipp über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Das Wort "Abneigung" sowie das Wort "Ideologie" haben eine Sache gemeinsam, diese wird implizit präsentistisch innerhalb einer Person gedacht, sozusagen als Eigenschaft. Mit dem Wort "Ideologie" soll oder kann oft auch eine bestimmte Sache gedacht werden, die etwa in einem Buch geschrieben steht und ein Leser diese dann dort vorhanden denkt oder "erkennt".

Gemeinsprachlich liegt eine Mehrdeutigkeit bestimmter Art vor. Der Nutzer muss sozusagen schielen, einmal auf das eine oder andere oder auf beide zusammen,  und damit eine Zweieinigkeit bei sich herstellen oder eben eine kognitive Dissonanz erfährt und versucht, Ordnung in sein Denken zu bringen. Die Mehrdeutigkeit verschwindet nicht mit Wendungen wie "das ideologische Denken". Auch kann die Sache in vielen Personen sein, auch das ändert nichts an der Mehrdeutigkeit. Oft kommen noch andere Bindungen dazu, etwa eine Person, ein Land. Hier kann eine Kreuztabelle dem Denken helfen, sozusagen als Tabellendenken.

Seit wann genau gibt es Kreuztabellen? Wie denkt ein Ideologiekritiker dazu?

Inwieweit überschneiden sich Sprachideologie und Ideologiekritik? Die Eine kann Gegenstand der Anderen sein. Wo verzweigten sich technisch-pragmatischer und philosophisch-theologischer Weg anfänglich? In einer Neandertalhöhle, in göbekli tepe oder begann es bereits mit dem Gruppenleben und den Steinkeilen vor Mill. Jahren? Heute ist die Software auch im Auto aktiv — und der kanadische Entwickler Guillaume Verdon, Vertreter des Effektiven Akzelerationismus, sagt beispielsweise: „Für mich ist Kultur eine Art Software, die auf Menschen läuft, und genau wie wir die Parameter eines Programms anpassen können, können wir die Parameter unserer Kultur anpassen, um die Zivilisation skalieren zu können.“ Und um welche Art Software handelt es sich? Um die Umgangssprache? Und Mathematik läuft dann wohl auf dem (oder besser im) Kosmos? 

Die Menschen werden füreinander geboren und so scheint die soziale der technischen Kompetenz vorangegangen zu sein. Die Mathematik ist bereits 6000 Jahre alt, aber erst Boole maithematisierte die Logik und Frege die Sprache. Seitdem streiten sich Umgangs- und Idealsprachler, Kulturalisten und Naturalisten. Erstere  können mit Mehrdeutigkeit leben, Naturalisten versuchen sie zu reduzieren, etwa durch Tabellendenken. GPT teilt mit: „Formen von Kreuztabellen gibt es seit dem 17. Jahrhundert in der Demografie und politischen Arithmetik, aber die moderne, statistisch definierte Kreuztabelle (Kontingenztafel) ist seit ca. 1900–1904 mit den Arbeiten von Karl Pearson etabliert.“ 

Tabellen, um physische und soziale Merkmale zu verknüpfen, benutzte Adolphe Quetelet im frühen 19. Jahrhundert bei seiner Arbeit „an einem Plan zur Quantifizierung dessen, was er den 'homme moyen' nannte: ein arithmetisches Mittel des Einzelmenschen. Die Summe aller durchschnittlichen menschlichen Eigenschaften würde zu einer quantitativen Repräsentation des Individuums führen, die für die Sozialwissenschaften die Funktion eines „Gravitationszentrums“ übernehmen könnte. Darüber hinaus erlaubte die Messung individueller und kollektiver, sozialer und physischer Eigenschaften, die Dynamik der Gesellschaft nachzuvollziehen. Quetelet war überzeugt, wenn nur genügend Daten gesammelt werden könnten, es möglich wäre, einen Menschen zu berechnen, der die gesamte Menschheit repräsentiert, und damit den Weg für eine Wissenschaft zu ebnen, die er später Sozialphysik nennen sollte.“ 

Das schreiben Marian Adolf & Nico Stehr 2024 in „Information, Wissen und die Wiederkehr der Sozialen Physik“. Zusammenfassung:  „Die Möglichkeiten der digitalen Informationsökologie (Big Data) lassen längst vergangen geglaubte Vorstellungen der totalen Information über individuelle und gesellschaftliche Zusammenhänge wiederauferstehen, etwa die Idee der abschließenden wissenschaftlichen Formulierung einer „Physik des Sozialen“. Auf Basis eines genuin soziologischen Wissensbegriffs und einer Darstellung der differenziellen Eigenschaften von Information und Wissen diskutieren wir die Möglichkeiten und Gefahren einer Rückkehr eines mechanistischen Bildes von Mensch und Gesellschaft im digitalen Gewand und erläutern dies am Beispiel des Pioniers der „physique sociale“, dem belgischen Sozialstatistiker Adolphe Quetelet. Wir argumentieren, dass dieselben Defizite, die einst Quetelets Vorhaben scheitern ließen, auch die Neuformulierung einer algorithmisch gewendeten Sozialphysik unterminieren. Die eigentliche Gefahr, so schließen wir, liegt in einem datenpolitischen Szientismus, der sich seiner eigenen normativen Blindstellen nicht bewusst ist und daher leicht zum Opfer ideologischer Übernahmeversuche werden kann.“ Heute kann Palantir CEO Alex Karp als Nachfahre des Adolphe Quetelet angesehen werden, wobei Quetelet über die heutigen Möglichkeiten der Datenanalyse via KI begeistert wäre.  

Aus kulturalistischer Sich ist der Naturalismus Ideologie und aus naturalistischer Sicht ist der Kulturalismus Ideologie. Wir sind wohl beide Kulturalisten, die aber ihre Argumente naturalistisch zu präzisieren versuchen. Da die soziale der technischen Kompetenz vorangegangen war, ist der alltagsbezogene Kulturalismus ursprünglich — und somit weniger ideologisch als der Naturalismus. Ginge es also um einen kulturalistischen Naturalismus? 

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