Am 31.01.2024 um 14:57 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



Am 31.01.2024 um 00:37 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Was soll es dann mit „mathematischer Theologie“ auf sich haben, Ingo? Ist diese Wortschöpfung nicht ähnlich der einer „mathematischen Philosophie“ wirklichkeitsfremd?

Moin Karl, 

wirklichkeitsfremd ist doch schon die Philosophie schlechthin — zumeist. Und betrieben nicht auch Leibniz, Cantor und Gödel „mathematische Theologie“?  


Nun gut, Philosophie als grundsätzlich wirklichkeitsfremd zu werten, mag Deiner Einschätzung entsprechen, ob diese jedoch einer allgemeingültigen Beurteilung gleichzusetzen ist, würde ich bezweifeln wollen. Immerhin schränkst Du ja ein und so wäre Philosophie zumindest zu einem kleinen Teil nicht wirklichkeitsfremd. Aber was ist nun Philosophie wirklich und was bedeutet Wirklichkeit?

Wir hatten hier vor einiger Zeit darüber diskutiert und ich denke, wir haben zureichenden Konsens darüber erzielt, dass Wirklichkeit als ein Ganzes nicht unmittelbar zu erfassen ist, anders als die sinnlich wahrnehmbare Lebensrealität oder Realien (wie Waldemar Realität zuletzt benannte). 

In diesem Zusammenhang hattest Du auf die Arbeiten von Ruth E. Kastner hingewiesen, die als Physikerin und Wissenschaftsphilosophin zum subempirischen Bereich forscht und dabei gewissermaßen an eine Türe der nichtphysischen Welt gelangt ist, die nicht mit den klassisch empirischen Werkzeugen zu öffnen ist. Die üblichen wissenschaftlichen Methoden von Messung und experimentellem Nachweis versagen also und somit kann Wirklichkeit als solche nicht erkannt werden. 

Soweit zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis und ihren Grenzen. Diese Grenzen nichtempirisch zu überschreiten, ist Anliegen und Mission der Philosophie und insoweit mag Philosophie wirklichkeitsfremd sein, wobei der Begriff von wirklichkeitsfremd eher der Vorstellung von Lebens. bzw. Realitätsfremdheit entspricht, da auch Philosophie nicht die Wirklichkeit an sich zu ergründen vermag.

R. E. Kastner ist Possibilist und Du bezeichnest Dich ebenso als solcher. Vermutlich auch wegen Deiner Leidenschaft für science fiction. Warum auch nicht, denn wer sich mit Zukunftsgedanken befasst, muss sich unweigerlich mit der Frage nach der Fortentwicklung von Welt und Kosmos auseinander setzen. 

Frei von Restriktionen des Determinismus fühlt sich der Possibilist berufen, sein Denken und Handeln an der in tragenden Natur auszurichten. Das lässt mich an unsere Diskussionen zum sog. Freien Willen denken. Als Possibilist müsstest Du dem Kompatibilismus und damit der Vorstellung von Determinismus im Sinne von durch Kausalketten verursachten Geschehnissen zusprechen. Sofern dies für Dich zutrifft, liegen wir diesbezüglich nicht so weit auseinander, trotz der stets aufs Neue hochkochenden Diskurse zum Themenkreis von Metaphysik (als Teilgebiet der Philosophie), geschweige denn zu Religion. Was letztere anbelangt, wäre mir Dein Mißtrauen mir gegenüber verständlich, nämlich dann, wenn Du als Possibilst dem Leitspruch des Johann Casper Lavater folgen würdest:

Werde Possibilist! Misstraue jedem, der alles gut findet, und dem, der alles für schlecht hält, noch mehr aber dem, dem alles gleichgültig ist.“

Richtig verstandene und gelebte Religion lässt Menschen zwar nicht alles, jedoch eine von Gott geschaffene Welt gut finden. Dieses unbenommen der Theodizee, ein von Leibniz beschriebenes Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts der in der Welt hervortretenden Übel: Was ist der Ursprung dieser Übel, wo bleibt Gottes Güte und Allmacht, wo die Freiheit des Menschen? 

Es geht um die Freiheit des Menschen, eine Freiheit also, die Dir als „Ideologiekritiker“ in heutiger Zeit die Möglichkeit gibt, berechtigte Kritik an fixierten Denkmustern und Dogmen der Theologie, wie auch an fragwürdigen Auswüchsen metaphysischer Betrachtungen zu üben. 

Ich sehe diese Fehlentwicklungen jedoch nicht als Vorurteile, sondern als überkommen bornierte Leitvorstellungen, die zu Vorurteilen und Verurteilungen führen. Irritierend wirkt auf mich, dass Du mir eine derartige Denkweise zuschreibst („blinder Glaube“) und ich kann es mir nicht anders erklären, als Du entweder nicht durchschauen kannst, was ich diesbezüglich hier schreibe, oder es nicht wahrhaben willst. Als Katholik bin ich offenbar von vornherein und unbesehen Deiner Ideologiekritik ausgesetzt und das undifferenziert in Gänze. 

Das ist es in der Tat, was mir missfällt und ich sehe mich im Recht dazu. Davon unbenommen seien Vorurteile, die ich zweifelsohne hege und nicht ohne weiteres ablegen kann. Damit befinde ich mich offenbar im breiten Spektrum der Gesellschaft.

Sehe ich  über die vergangenen Jahre hinweg auf unsere hier geführten Diskussionen in Bezug auf Religion, insbes. auf das von ihr vermittelte und geglaubte Gottesbild, haben diese Diskurse bei mir definitiv zu einem kritischen Hinterfragen desselben geführt, wie es bis heute nahezu jeder Austausch hier bewirkt.

Schaue ich zurück, könnte ich mich am Ende selbst nicht mehr erkennen und das ist doch Sinn und Zweck von menschlicher Kommunikation als Korrektiv. Damit sei nicht gesagt, dass man sich von jedem Windhauch die Segel verdrehen, also seine grundsätzlichen Überzeugungen nehmen lassen sollte. 

Nach diesem Exkurs in die Subjektivität individueller Voreingenommenheit nun noch zu Badious an Mathematik ausgerichteter Ontologie, insbes. seines Beitrags zur Philosophie.

Entscheidend dabei ist offenbar seine Forderung, dass das Denken des Menschen die Beschränkung durch Sprache durchbrechen muss und kann, um die Lebensrealität von jenen Sprachstrukturen abzutrennen, die einer unzulänglichen Projektion auf eben diese entspringen. Denn das ist eigentliche Ursache für Vorurteile und nicht eine wirklichkeitsfremde Philosophie. Wenn Heidegger sagt, Wissenschaft könne nicht denken, will er offenbar Kritik daran üben, dass die Ambition der Wissenschaft, die Wirklichkeit hinter der messbaren, sichtbaren, empirisch erfassbaren physischen Welt zu suchen und zu ergründen, zum Scheitern verurteilt ist. 

Badiou sieht das anders und glaubt, dass Wissenschaft die wesentliche Domäne des Kulturwesens Mensch ist, in der sich wahres Denken entfalten kann. Ich bleibe diesbezüglich bei der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft und sehe wahres, ganzheitliches Denken vornehmlich in letzterer vertreten. Daher ist es so bedeutsam, dass sich baldmöglichst ein interdisziplinäres Herangehen an grundsätzliche Fragen zu „Gott und Welt“ entwickelt, ganz im Geiste Einsteins, bzw. in Anlehnung an sein berühmtes Postulat:

"Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind." Allerdings zeitgemäß umformuliert: 

Naturwissenschaft ohne Philosophie ist unvollkommen, Philosophie ohne Naturwissenschaft ebenso.

Das gilt selbstredend auch für Religion (als Themengebiet der Metaphysik gesehen) und da trifft dann auch die Kritik vom blinden Glauben.


Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl





Letztere ist wohl an B. Russels Buch „Introduction to Mathematical Philosophy“ angelehnt und ist ebenso irreführend, denn Russel hat dieses ganz klar als Mathematikbuch geschrieben und so müsste man eher von einer Philosophie der Mathematik und nicht von „mathematischer Philosophie“ sprechen. Wo sich definitiv Mathematik und Philosophie treffen, sind logische Systeme wie z.B. die Prädikatenlogiken, die in jeweiliger Disziplin Möglichkeiten der Falsifizierung, resp. Formalisierung von Argumenten bereitstellen.


Ich lehne mich nicht an Russell, sondern an die Nachfolger Stegmüllers in München an. Aber was Dir missfällt, ignorierst Du lieber und ergehst Dich in Deinen Vorurteilen. Hier noch einmal der Link: 


In "A Structural Justification of Probabilism: From Partition Invariance to Subjective Probability“ argumentiert Hannes Leitgeb sogar dafür, dass "rational degrees of belief may be identified with probabilities.“ Rationale Grade des Vermutens liegen mir als Possibilisten natürlich näher als blinder Glaube. 






 

Wie immer witterst Du den Geruch von Theologie und Metaphysik, hier bezogen auf benannte „aktuale Unendlichkeit“ (unbenommen, ob man die Kreiszahl pi dieser Kategorie zuordnen wollte), also die nach dem Aquinaten (mit Bezug auf Aristoteles) entstandene christliche Vorstellung von Gott als aktuale Unendlichkeit. Diese wiederum, in Anlehnung an die Mathematik wurde wohl wegen der angenommenen Unendlichkeit einer zwar transzendenten, aber dennoch absolut vollkommenen, tatsächlich existierenden Wesenheit gleich gesetzt, die man Gott nennt. 


Als Ideologiekritiker geht es mir nicht um Witterung, sondern um die Entlarvung von Vorurteilen, die in Theologie und Metaphysik verbreiteter sind als in der Mathematik. Aber auch dort kommen sie vor, besonders bei dem mathematischen Theologen Cantor, wenngleich der linke mathematische Philosoph Alain Badiou in seiner Vorlesungsreihe „Das Jahrhundert" Cantor, Freud und Lenin zu den drei intellektuellen Quellen des zwanzigsten Jahrhunderts zählt. Auch über Badiou hatten wir uns hier schon mehrfach ausgetauscht, der die Ontologie ja in der Mathematik aufgehen lässt.  

Solltest Du noch nicht die frei verfügbaren gesammelten Werke Cantors zumindest überflogen haben, Eva-Maria Pfeifer und Sabrina Vincenz haben in „Georg Cantor und das Unendliche“ das Seminar „Kardinalität und Kardinäle“ zusammengefasst. 


Elisabeth Lehner hat sich als Magistra der Theologie qualifiziert mit: „Mathematik, Philosophie und Theologie als dieselben Wissenschaften der einen unendlichen Nichtfassbarkeit“:  


Und Ludwig Neidhart hat in Theologie promoviert mit: „Unendlichkeit im Schnittpunkt von Mathematik und Theologie“:


1883 unterschied Cantor eigentliches und umeigentliches Unendliches: „Das Uneigentlich-Unendliche ist eigentlich ein veränderliches Endliches und keine bestimmte Größe, im Gegensatz zum Eigentlich-Unendlichen, das in einer bestimmten Form auftritt“. 1886 unterscheidet er zwischen Absolut-Unendlichem und dem Aktual-Unendlichen. Das Aktual-Unendliche ist vermehrbar und das Absolute ist wesentlich unvermehrbar (was immer das heißen soll). Weiter identifiziert Cantor das Eigentlich-Unendliche mit dem Aktual-Unendlichen und genauso kann man unter dem Potentiell-Unendlichen dasselbe verstehen wie unter dem Uneigentlich-Unendlichen aus den Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre. 

Cantor ging es nur um das Aktual-Unendliche, so dass er In seinen „Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten“ 1887 drei Beziehungen dafür hervorhebt: 
1. in Deo (höchste Vollkommenheit, unabhängiges, außerweltliches Sein): Absolutes 
2. abhängige, kreatürliche Welt: Transfinites 
3. in abstracto (mathematische Größe): Transfinites
Mit dem Absoluten beschäftigt sich die spekulative Theologie, mit dem Transfiniten Metaphysik und Mathematik.— Ich brauche keine Witterung aufzunehmen, um so etwas für mathematische Theologie zu halten. 

Kommt man von diesem Gedankengang wieder in irdische Gefilde, erhebt sich die Frage, ob denn aktuale Unendlichkeit überhaupt oder eben doch nur die potentielle gegeben sein kann. Bei ersterer geht es also um einen Gegenstandsbereich, der in Annahme aktualer Unendlichkeit eben auch das Merkmal unendlicher Mächtigkeit im gesamten Wirkungsbereich, resp. Existenzbereich aufweisen muss. Für den Bereich der Mathematik ist das m.E. geklärt, nicht so jedoch für diesbezügliche Zuschreibungen im Gebiet von Philosophie und damit auch der Metaphysik. Hier bleibt m.E. nur die Möglichkeit der Konstruktion oder eben des Glaubens und damit die Annahme einer potentiellen Unendlichkeit für den Bereich des letzteren, bzw. den der Intelligibilität und des Numinosen.


Nicht einmal in der Mathematik ist der Umgang mit Unendlichkeit geklärt, beschränken sich doch die Konstruktivsten auf Konstruktionen bspw. durch Reihenentwicklungen und halten den Gebrauch des ausgeschlossenen Dritten im Glauben an das Aktuall-Uendliche für ungerechtfertigt. 

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