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Am 04.07.2024 um 03:42 schrieb Joseph Hipp über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:
Der Dritte im Streit
Diese Überschrift würde ich einem Text geben, für den ich zu
beginnen keine Zeit habe. Und doch würde ich wohl folgendermaßen
anfangen:
Jedem (C) kommt es vor, dass er zwei
andere (A und B) sieht, die streiten. Als Dritter wird er von
vornherein nicht beachtet, insbesondere bei einem heftigen Streit.
Angenommen C findet heraus, wie A denkt und auch wie B denkt, dann
kann erx eventuell herausfinden, wo der Streit begonnen hat, oder
immer wieder beginnt. C kann auch herausfinden, wie Streit
abläuft, welche Arten Streit es gibt. Aber das interessiert A und
B möglicherweise nicht.
Doch, das interessiert mich sehr wohl, sei ich nun „A“ oder „B“.
Es zeichnet Dich aus, Joseph, wie sehr Du um Vermittlung zwischen Waldemar und mir bemüht bist. Alleine schon deshalb müsste ich damit aufhören, hier an meinen Überzeugungen oder Ansichten in der Sicht auf „Gott und die Welt“ festzuhalten.
Das wäre mir auch ein Leichtes, wenn es in diesem Kontext nicht um diese mir unerträgliche Behauptung, resp. Aufforderung des Waldemar ginge, das Christentum sei zu vernichten, weil es überall „seine dreckigen Finger“ im Spiel hat.
Da geht es im Kern also nicht um die Darlegung unterschiedlicher Meinungen hinsichtlich Religion und Kirche oder um das bisweilen unwiderlegbare Fehlverhalten derer Statthalter, sondern um die pauschalierende Diskriminierung des Christentums und insbesondere die Forderung nach seiner Vernichtung, die Waldemar zuletzt noch mit dem ELIL des Voltaire untermauerte.
Welch anmaßende Inanspruchnahme der Autorität des großen Aufklärers Voltaire und dessen Forderung „Ecrasez l`Infâme!“, die ja in einem ganz anderen Kontext von Religionskritik steht, nämlich einer zurecht erfolgten Fundamentalkritik an der zu dieser Zeit alles beherrschenden klerikalen Clique.
Wenn man schon, wie Waldemar es hier betreibt, sich auf die Autorität eines Voltaire beruft, der ihm als Feind der Religion, resp. Kirche und somit als „Weggefährte“ erscheint, sollte man die tatsächlichen Hinter-, bzw. Beweggründe dieses großen Denkers bedacht und verstanden haben.
Voltaire war eben nicht von blinder, polemischer Kritik gegen Religion und Kirche besessen. Er war kein Atheist und ist daher eben kein geistiger „Weggefährte“ derer, die sich als solche bekennen und von dieser Warte aus undurchdachte oder auch polemische Kritik an Religion und den daran geknüpften Gesellschaftsformen üben.
Voltaire war es daran gelegen, Religion in ihrer genuinen Bedeutung den Menschen nahezubringen. Die hierzu tauglichen Methoden sowie das elementare Grundverständnis von Religion und Christentum hat man ihm im Jesuiten-Kolleg beigebracht, von deren untauglichen Denkmustern (der Jesuiten) er sich emanzipiert hat und diesbezügliche „Scheuklappen“ sich gar nicht erst verpassen ließ, sehr wohl jedoch Lehrinhalte aus deren herausragendem Bildungsrepertoire, wozu er durch exzellente Intelligenz befähigt war.
Voltaire war definitiv kein Gegner der Religion, sondern wirkte vielmehr als Erneuerer des christlichen Glaubens. Das wollten und konnten jene Vertreter der herrschenden klerikalen Machtelite dieser Zeit nicht zulassen und erklärten ihn daher zum Feind und verfolgten ihn unablässig. Doch sie konnten „ihm das Wasser nicht reichen“.
Voltaire legte in seinem „Philosophischen Wörterbuch“ seine eben vornehmlich philosophisch angelegte Glaubensüberzeugung in einer Weise dar, dass sie entlarvend den zu dieser (wie bedauerlicherweise bis in die heutige) Zeit überkommenen, tradierten orthodoxen Glaubensauffassungen der Kirche entgegen standen.
Die Beschäftigung mit Voltaires Schriftgut hat mir u.a. geholfen, das mir ursprünglich aufgeprägte anthropomorphe Gottesbild aufzugeben, was für einen Christen kein Leichtes ist, da sich die Vorstellung der - dem eines menschlichen Herrschers gleich - zugedachten Attribute von Allmacht, Weisheit, Güte aber auch von Zorn und Rache bei Fehlverhalten tief in die menschliche Psyche eingeprägt hat.
So ist Voltaires grandios abgefasste Prosa dazu angetan, im Denken der Menschen den kritischen Geist anzuregen, um insbesondere ein bis heute zeitgemässes Verständnis von Religion/Christentum und individuellem Glauben, resp. eine diesbezügliche Überzeugung zu entwickeln, vor allem aber die Abkehr von tradierten, nicht mehr haltbaren Gottesbildern zu ermöglichen.
Insofern wäre es kirchlichen Kreisen anzuraten, in ihren Gottesdiensten anstatt verstaubter Psalmen und Metaphorik der Vorzeit darzubieten, aus Voltaires Schriften (insbesondere aus seinem o.a. „Philosophischen Wörterbuch“) zu lesen. Ebenso würden sich Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“ hierzu anbieten.
KJ