Am 09.12.2022 um 00:22 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Hi JH,

denken kannst Du Dir viel bei Wörtern, aber versuch doch einmal, ein Verständnis von „Fallibilismus" auf die tatsächliche physikalische Forschung und ihre bis heute kumulativ entwickelten Theorien zu beziehen? Eine „Logik der Forschung“, wie Popper sie umschrieb, gibt es nicht. Forschung und Alltag folgen keiner Logik, sondern der Stochastik. Und der Verweis auf den Papst fällt unter PLURV; denn hat der vielleicht quantitativ gedacht?

Ja, physikalische Therorien unterfallen dem NVP (näherungsweise vereinheitlichenden Paradigma), deshalb sind sie in ihren jeweiligen Gültigkeits- und Genauigkeitsbereichen nicht widerlegbar. Momentan reichen ihre Genauigkeitsbereiche bis zu einem relativen Fehler von etwa 10^-14 hinunter und erstrecken sich über mehr als 60 Größenordnungen vom Kleinsten bis zum Größten. Das ändert aber nichts an der Alltagstauglichkeit des Galilei’schen Fallgesetzes mit einer Fehlertoleranz im Prozentbereich nahe der Erdoberfläche.

Hypothesen werden in Verbindung mit Theorien hinsichtlich der Existenz formuliert, denke bspw. an das Higgs-Boson, die Quarks, W/Z-Bosonen, Positron, Elektron … oder an die Naturkonstanten. Sie alle sind theoriegeleitet per Messung zu ermitteln, wobei die Messwerte empirisch und nicht fallibel sind. Denn sollte eine Theorie nicht mit genaueren Messungen konform gehen, wird sie dadurch lediglich eingeschränkt, aber nicht widerlegt. Am Austesten der Genauigkeitsgrenznen der Theorien wird ständig intensiv gearbeitet; denn schon kleine Abweichungen könnten den Horizont auf weiterreichende Theorien eröffnen.


Wenn sie nicht durch Tatsachen widerlegbar sind, kann aus ihnen auch nichts über tatsächliche Verhältnisse folgen. Wenn aus ihnen etwas über tatsächliche Verhältnisse folgen und es nicht nur auf innere Schlüssigkeit ankommen soll, diese Folgerung aber nicht zutrifft, sind sie widerlegt. Alltagstauglich sind sie nur, solange der Alltag auch tatsächlich mitspielt. Und was könnte man sich unter einem "nicht falliblen" Messwert vorstellen? Allenfalls einen dadurch immunisierten, dass man bei einem anderen Ergebnis das Messinstrument für kaputt erklärt.
Jede Äusserung, die sich in irgendeiner Form auf Tatsachen bezieht, muss sich an ihnen messen lassen. Sonst ist sie vielleicht ein schönes Gebilde, aber nicht so etwas wie ein Abbild.
Ich gehe ja auch von der Konstanz des Naturgeschehens aus, anders könnte man gar nicht leben und glaube nicht, das nach tausend Messungen die tausenderste nicht nur ein bisschen, sondern völlig anders ausfällt. Meinetwegen kann man dann auch von Wissen reden, nur sollte man sich darüber im klaren sein, dass das nur ein anderer Ausdruck für "Glaube an die Konstanz des Naturgeschehens in Verbindung mit vielen systematisisch ausgewerteten Beobachtungen" ist, es sich aber natürlich nicht um von keiner Erfahrung erschütterbares Wissen ein für allemal handelt, wie es manche Erfahrungswissenschaftler vielleicht gern hätten.
Sag etwas über Tatsachen und du musst dich ihnen stellen - das ist doch ziemlich selbstverständlich, oder?

Moin Claus, 

solange krit. Rationalisten und meth. Konstruktivsten aneinander vorbei schreiben, werden wohl auch wir es weiter tun. Da es in der Physik nicht auf umgangssprachliches Geschreibe ankommt, sondern auf meth. konstruierte Formalismen und Experimente, kann ich Dich nur darauf hinweisen, dass es sich beim Galilei’schen Fallgesetz nicht um einen widerlegbaren Allsatz handelt, sondern um eine bewiesene Existenzbehauptung: g=9,81m/s^2. D.h. es gibt eine Erdbeschleunigung und sie beträgt eingedenk der Fehlertoleranz 9,81m/s^2. Empirisch an der Behauptung ist nur die Quantität, alles andere ist Konstruktion. Einzelne Beweise können natürlich fehlerhaft sein, aber desto mehr und auch abgewandelte Beweise geführt werden können und vielfältige Anwendungen funktionieren, desto wahrscheinlicher gilt er; denn alle quantitativen Sätze der Physik gelten nur als mehr oder weniger wahrscheinlich. Die Überprüfung einer Existenzbehauptung liegt im Nachvollzug ihres Beweises und nicht im Geschreibe darüber. Das wusste schon der Schriftsteller Turgenew, der 1861 in „Väter und Söhne“ den Nihilisten sagen ließ: „Man beweise mir einen Satz und alles ist gesagt“    

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