Am 20.02.2023 um 15:55 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:


geht es nicht auch um die „Dialektik von Qualität und Quantität", bspw. von Engels bis Havemann? Oder um den Übergangsbereich zwischen (qualitativer) Innen- und (quantitativer) Außenwelt? Dialektiker und Dichter denken Gegensätzliches in der dialektischen oder poetischen Einheit zusammen, die bei Rilke bspw. so lautet: 

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum: 
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still 
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, 
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.“ 


Moin moin Ingo,

ja, so macht es Freude, an ein Thema heran zu gehen! Und es zeigt sich wieder einmal, dass eigentlich nur die Kunst - hier die Kunst der Verdichtung – es vermag, die Lebenswelt in ihrer Ganzheit darzustellen. In dieser Ganzheit bergen und vereinigen sich Materie und Geist betrachteter Dinge. Rilkes Gedicht „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen“, aus dem Du die hier vorgestellte Strophe entnommen hast, beginnt mit Dingen, an denen wir Menschen viel zu oft nur achtlos vorüber gehen. Womöglich auch deshalb, weil die wahrnehmenden Sinne von diesem Zuviel an allem Unnatürlichen, eben Künstlichen, an allem technisierten Umfeld stumpf geworden sind. 

Das mag auch schon 1914 so gewesen sein, als dieses Gedicht entstand, eine Zeit also, wo gerade ein erster schrecklicher Krieg anfing, der mit den Ressourcen der Industrialisierung seit den 1870er Jahren geführt wurde.

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, / aus jeder Wendung weht es her: Gedenk! /  Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, / entschließt im künftigen sich zum Geschenk 

Was sollte dieses sich entschließende Geschenk anderes sein, als die Erkenntnis der Dinge, neben der sinnlichen - und damit die unumgänglich konkret körperliche Wahrnehmung - eines Äußerlichen, dessen Inneres nur mit „Fühlung“ zu erfassen ist. Es ist solchermaßen eine Fühlungnahme, die sich quasi als übersinnliche Erkenntnis der Dinge zu Rilkes Begrifflichkeit eines Welteninnenraums verdichtet: Durch alle Wesen reicht der ein Raum / Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still / durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, / ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Und so sehe ich ebenso, wie Du dies hier beschreibst, die Gegenständlichkeit von Dingen als eine Art Dialektik, wie diese sich in ihrer mess- und abzählbaren Quantität, wie auch in ihrer Qualität als quasi „Weltinnenraum“ abbildet, wobei letztere eben nur durch „Fühlungnahme“ zu erfassen ist.

Nicht nur auf dieses Gedicht bezogen, verlangen die uns täglich begegnenden Dinge von uns ab, nicht stumpfsinnig an ihnen vorbei zu gehen, sondern fordern eine „Begegnung“, die das Ganze einer Gegenständlichkeit, die eigentliche Wirklichkeit zu erfassen vermag. Diese „Forderung“ ist in heutigen Zeiten nahezu nicht zu erfüllen und so bleiben uns Dinge fremd im Vorübergehen, sie erschließen sich nicht von selbst, sondern nur im Dialog als Kommunikation zwischen unserem Inneren und dem der Außenwelt; es ist dieses von mir beschriebene „in Resonanz kommen“ zwischen beiden Innenwelten, der des Menschen und dem der Welt. Diese Resonanz kann sich einstellen, da das jeweilig Innerste – ich sehe es als ein Geistiges – identisch und daher in gewisser Weise zu verschränken ist.

Das könnte anknüpfen an das von Thomas zuletzt hier beschriebene Erleben von Sinn, als Superposition von Sinnfeldern, die sich als orchestrierte Kohärenz ausbilden.

Soweit meine Gedanken hierzu bisher, verbunden mit ebenso herzlichem Dank für diese Beiträge, Ingo und Thomas.

Mit bestem Gruß! - Karl


PS: Thomas, den von Dir mitgegebenen Artikel muss ich erst mal in Ruhe durchlesen. Vielleicht an dieser Stelle noch ein kurzes Eingehen auf den klinischen Aspekt eines Weltinnenraums im Verhältnis zur üblich menschlichen „Außenorientierung“.  

Weltinnenraum“ des Menschen kann nicht die rein neurobiologische Struktur unserer Körperlichkeit sein, sondern eher ein Geistiges, was i.A. als das menschliche Bewusstsein angesehen wird. Dieser nahezu mystisch erscheinende „Innenraum“ ist bislang kaum erforscht, wenn es denn überhaupt je gelingen wird. Damit liegen jedoch keine verlässlichen Kriterien vor, nach denen letztgültige Aussagen zur Funktion menschlichen Bewusstseins zu machen sind, wie z.B. auch im Sinne der hier auch bereits diskutierten Frage zum sog. „harten Problem“ der Bewusstseinsforschungetwa zur Erklärung der subjektiven Empfindung von Qualia. 

Dieses Manko spiegelt auch ein gesellschaftlich kulturelles Ungleichgewicht wider, wonach ein Löwenanteil technisch-materieller einer zurückgebliebenen geistigen Orientierung gegenüber steht. Dieses massive Ungleichgewicht wird sich künftig noch viel stärker in der psychosomatischen Medizin resp. der Psychotherapie abzeichnen.