Hi IT,

aber ist dieser faszinierte Blick auf die „Natur“ und deren „Konsistenz“ nicht der bewundernde, aber doch etwas naive Blick des Ingenieurs, der sich darüber etwas kindisch freuen kann, daß alles so wunderbar „funktioniert“? Früher hätte man darin einen Grund gesehen, ein Loblied auf den „Schöpfer“ anzustimmen (war Einstein nicht auch in diesem Sinne religiös?); aber diese Lobgesänge sind doch zumindest ein bißchen leiser geworden (wenn sie nicht ganz verstummt sind), seit sich diese rein technische Faszination des bloßen Funktionierens (=Überlebens) so bißchen durch die allgemeine wissenschaftliche Entzauberung gelegt hat (nicht zuletzt seit wir von Darwin gelernt haben, daß es ja vollkommen zwingend ist, daß das, was überlebt, „funktioniert“, denn wenn es nicht funktionieren würde, gäbe es ja schlicht nicht, dann wäre es irgendwann unfit for survival geworden, also: „ausgestorben“). Vielleicht ist es ja auch nur wieder eine Charakterfrage, aber wo die einen eben „Schönheit“ und „Konsistenz“ der Natur sehen, sehen die anderen in ihr nichts als absurde Sinnlosigkeit und empfinden geradezu „Ekel“ vor ihr (z.B. Sartre).

Und warum sollte man nicht Wissenschaft und Kunst getrennte Wege gehen lassen? Schon bei Goethe wäre man ja versucht, zu sagen, daß seine Kunst um vieles besser war als seine Wissenschaft, und bei vielen andern würde man wahrscheinlich sagen müssen, daß die Kunst darunter leidet, daß sie Wissenschaft sein soll - und andersherum. Ich könnte mir vorstellen, daß es auch hier sinnvoller ist, Differenzen zu belassen, vielleicht sogar noch zu vertiefen, als krampfhaft zu versuchen, sie aufzulösen: radikaler „Methodenpluralismus“ statt „Einheitswissenschaft“, auch zwischen der Wissenschaft und anderen „Weltzugängen“. Nochmal: Heterogenität, Inkompatibilität, Differenz wären da eher meine orientierenden Ideen - und ich weiß, daß das heute auch die Schlagworte der neofaschistischen Neuen Rechten und Anti-Europäer usw. sind. Daher würde ich – auch hier – Politik und Wissenschaft streng trennen und sagen: politisch müssen wir freilich universalistisch, unitarisch, monistisch, idealistisch denken und agieren (Partikularismus darf nicht politisiert werden). Aber gesetzt, es gibt ein Leben außerhalb der Politik (und darauf spekuliere und hoffe ich zumindest), dann darf, dann muß es vielleicht sogar anti-universalistisch sein.

JL

 

 

Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>
Gesendet: Sonntag, 28. Juli 2024 14:15
An: philweb <philweb@lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann@tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?

 

Hi JL, 

 

ja, ausgesetzt dem chaotischen Leben folge ich seit Kindertagen meinem Verstehensdrang, suche nach Ordnung im Chaos. In der Wissenschaft wird beides vereint, einschließlich der Brüche in den Symmetrien. Mit der Inkonsistenz im Leben beziehst Du Dich wohl auf das alltägliche Durcheinander. Unsere innere Natur dagegen hält uns in äußerst konsistenter Weise am Leben. Einschließlich der äußeren Natur fasziniert sie mich mehr als das von Gewohnheit, Angst und Gier bestimmte menschliche Zusammenleben. Die nichtmisstrauenswürdige Ordnung der Natur spendete schon Einstein Trost.    

 

Dein Problematisieren des Mottos Lorenzens kann ich nachvollziehen. Ich sehe darin zunächst einmal den Primat der Praxis hervorgehoben; denn im Anfang war die Tat, nicht das Wort. Menschen planen, kommentieren und rechtfertigen doch ständig das, was sie Tun und Erleben. Widersprüche und Unsinnigkeiten dabei sind die Regel und so folgen sie zumeist dem Prinzip der Vermeidung kognitiver Dissonanz. Und dem wird zunächst auch in den Theorien zu folgen versucht. Lorenzen knüpfte daran an, versuchte es aber besser zu machen in seiner Wissenschaftstheorie, ebenso wie die Kieler Erziehungswissenschaftler im ZKE und der philosophierende Wirtschaftsinformatiker Ludger Eversmann in „Perspektiven von Informatik und Wirtschaftsinformatik als technisch-politische Wissenschaften“: 

 

https://www.mathematik.uni-marburg.de/~hesse/symposium/pdf/EFs06Eversm.pdf

 

Mit irgendwas zwischen "Anything goes" und "Shit happens“ spannst Du einen Bogen für die Künste, der auch dem Alltag zukommen könnte. Feyerabend hatte ja dafür plädiert, Wissenschaft als Kunst zu betreiben. Insofern Intuition und Kreativität eine Rolle spielen, unterscheiden sich beide Bereiche eh nicht. Ansonsten hältst Du Dich an die Künstler oder ihre Werke. Von ihnen auszugehen, hat ebenfalls Praxisbezug und könnte gleichermaßen in die Kunst- und Wissenschaftstheorie führen. Paradebeispiel dafür ist ja Goethe, der sich zugleich in Wissenschaft und Literatur auszudrücken vermochte. Aber hat schon jemand von ihm ausgehend, den Bogen in die gegenwärtige Wissenschaft und Literatur gesponnen?      

 

Bereichsübergreifende Darstellungen sind selten. Mir fallen nur zwei ein: "The Science of Art - Optical Themes in Western Art“ und "The Art of Science, From Perspective Drawing to Quantum Randomness“. Viele wechselseitige Bezüge gibt es ja zwischen Relativitäts- und Quantentheorie sowie Expressionismus und Surrealismus. Der Welle-Teilchen-Dualismus bspw. ließe sich auch in der Sternennacht van Goghs ausmachen. Und sind die schmelzendem Camembert nachgebildeten Uhren Dali’s in seiner „Beharrlichkeit der Erinnerung“ nicht auch eine Visualisierung der physikalischen Zeitdehnung? Und natürlich ist DAS SPIEL, wie bspw. Manfred Eigen es begonnen hatte, ein übergreifendes Thema für Alltag, Kunst und Wissenschaft.       

 

Albert Einstein, Käthe Kollwitz und Heinrich Mann hatten sich ja bis zuletzt um eine vereinigte Linke im Kampf gegen die Faschisten bemüht. Leider erfolglos. Momentan befinden wir uns wieder in einer Übergangszeit zu mehr Autokratie weltweit. In GB scheinen die Wählenden aus dem BREXIT-Fiasko gelernt zu haben. Leider zu spät. Welche Rolle könnten Philosophie und Kunst neben der Wissenschaft dabei spielen, den Gegenwartsproblemen besser begegnen zu können? Für die US-Wahl hoffe ich, dass sich vermehrt populäre Künstler in den Wahlkampf einmischen und Aktionen für die Demokraten starten, um dem mit den Republikanern drohenden weiteren Demokratieabbau entgegen zu wirken.       

 

IT               

 



Am 28.07.2024 um 09:18 schrieb Landkammer, Joachim über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

 

Hi IT,
man kann mit vielem von dem, was du schreibst, sympathisieren, aber vor allem eines wird mir wahrscheinlich immer fernstehen (nenn es einen Gen-Defekt): dieser Drang, alles einzuordnen, einzureihen, in "Spannweiten von ... bis", in Schichtungen, Abfolgen, Kontinuitäten, Anschlußzwängen, Generierungsmöglichkeiten. Ich sehe eher überall Brüche, Inkompatibilitäten, Differenzen; ich würde eher sagen: fast nichts im Leben ist so konsistent, daß sich daraus irgendwas sinnvoll "generieren" ließe. Schon diesem einen Zitat:
"Alle Theorien sind Redeinstrumente zur Stützung schon begonnener Praxis.“
würde ich zumindest diese Fragezeichen entgegenhalten:
- wieso "Stützung"? gibt es nicht Theorien (und sind es nicht vielleicht gerade die interessantesten), die gängige Praxen eher schwächen, hinterfragen, desavouieren? Die evtl. sogar von jeder "Praxis" generell abraten?
- was heißt "schon begonnen"? Gibt es nicht Praxen, die zwar vielleicht irgendwie-irgendwann begonnen haben, aber trotzdem dauernd "stottern", taumeln, unsicher vor sich hin wurschteln, dauernd unterbrochen werden, nie wirklich richtig "funktionieren"? Wird hier nicht ein Immer-schon-Funktionieren unterstellt, das genau besehen in der "Praxis der Praxis" gar nicht festzustellen ist?
- das Wort "Redeinstrumente" unterstellt, daß es neutrale und objektive Beschreibungsformen sind, oder? Wie wäre es, wenn wir stattdessen "Propaganda-Instrumente" sagen würden? Gibt es nicht "Redeinstrumente", die die Praxis verfälschen oder schönreden, verharmlosen (du sagst selbst "hochstilisieren")? also eine "legitimatorische Absicht" haben? wie unterscheiden wir diese "Redeinstrumente" von anderen, "bessere" von "schlechteren"?

Mein "Motto für eine Kunsttheorie"? Keine Ahnung, wahrscheinlich irgendwas zwischen "Anything goes" und "Shit happens"... Ich würde wahrscheinlich auch sagen, es gibt gar keine sinnvolle Kunsttheorie, sondern nur Theorien zu einzelnen Künstlern, oder sogar: einzelnen Kunstwerken. Wenn ich was sagen soll zu "Ulysses" oder zu "Buddenbrooks" oder zu Günter Grass' "Zitronenfalter", fällt mir vielleicht was ein, aber keine irgendwie gehaltvolle Roman- oder Gedichttheorie...

JL