Am 15.01.2023 um 03:26 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Es ging hier - dem Thread folgend – um Gödels Unvollständigkeitstheorem und in der weiteren Folge um seinen Gottesbeweis. Du hattest Dich diesbezüglich ambivalent geäußert: Unverständnis gegenüber Gödel, der einerseits scharfsinnig und kreative Menschen auf Gläubige reduziert und dann noch versucht, die Mythengestalt Gott beweisen zu wollen, andererseits Verständnis für Gödel, als dieser nicht „herumschwafelt“, sondern etwas beweisen will, was man für Gott hält.

Bezogen auf Deine sich widersprechenden Aussagen waren es mir zu müßig, explizit darauf einzugehen und daher mein „Pfeifen auf Beweise“: Auf Beweise kann man natürlich nicht grundsätzlich verzichten, verzichten kann man auf Ungereimtheit, auf die zu antworten entweder auch nur zu widersinnigem „Geschwafel“ oder zu einem Abbruch der Diskussionskette führt.



Moin Karl, 

wie passen Anerkennung für den Intellekt eines Menschen mit dem Unverständnis seiner Irrationalität zusammen? Bezieht sich das nicht generell auf die Diskrepanz zwischen instrumentellem und strategischem Denken? Warum soll ich also nicht zugleich Gödels Scharfsinn anerkennen, aber das, wofür er ihn einsetzt, ablehnen können? Ebenso verhält es sich für mich bei Leibniz und Cantor. Wenn Du eine derartige Ambivalenz sogar für widersprüchlich hältst, dann könnten wir vielleicht unseren Horizont von den Menschen und der Mathematik auf die in der Gesellschaft obwaltenden Ideologien erweitern. 

Ich betreibe Ideologiekritik seit den 1970er Jahren und ging aus von: „Karl Marx Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten“, MEW Bd. 3. Die Autoren beklagen: „Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen“. 

Demgegenüber „wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit.“ Denn: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“

Erst aus den jeweiligen Lebensumständen heraus werden die Ambivalenzen im Denken der Menschen kompatibel und führen nicht gleich zu Widersprüchen. Den Alltag macht nicht die Logik, nur die Stochastik verständlich. Damit oute ich mich in Antwort auf JH als possibilistischer Nihilist, für den Beweise stets die Hauptsache im gesellschaftlichen Umgang sind, um nicht den vielen grassierenden Ideologien auf den Leim zu gehen, vor denen auch die Wissenschaften nicht gefeit sind. Dabei greifen Beweise nicht zu kurz, da sich mit ihnen erst erweist, worum es geht: Was sind die Voraussetzungen, welcher Argumentation wird gefolgt, wie weitreichend und genau gelten die Folgerungen? Im Gegensatz zu den MINT-Fächern sowie Medizin und Justiz wird im Alltag ja von rund 40% den bloßen Meinungen der für vertrauenswürdig gehaltenen Mitmenschen oder Medien gefolgt.   

Gödel war nicht nur ein genialer Mathematiker, er war auch Axiomatizist, Platonist und Christ. Aber wie ich bereits RF gegenüber hervorhob: Vorerst werde ich keine übergreifend integrierende Betrachtung der Gottesvorstellungen von Leibniz, Cantor und Gödel liefern;— ödet mich das Thema doch erheblich an. Jedenfalls kostet es mich als Freidenker immer wieder Überwindung, mich mit religiösen oder sonstigen  ideologischen Themen zu befassen. Möglich wird es mir nur unter dem Vorhaben der Ideologiekritik. Darunter fallen bei mir auch gelegentliche Beschäftigungen mit Auswüchsen des überwältigenden Medienschrotts, dem wir ständig ausgesetzt sind. 

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ oder „Wes Brot ich schlinge, des Lied ich singe.“ Ist der Lebensunterhalt gesichert, kommt in Russland die Gewalt hinzu, mit der Ideologiekritik unterdrückt wird. Die Freidenker sind ja zumeist in den Westen geflüchtet. Aber auch im Westen gibt es sogenannte Influencer, die sich kaufen lassen und jeden noch so absurden Unsinn verbreiten, obwohl sie es nicht nötig hätten. Aber wie sind deren Lebensumstände im Medienkapitalismus? Und warum reicht noch immer die Bildung der Konsumenten nicht hin, gegen Unsinn gefeit zu sein? Wie das Wissen nur ein Tropfen im Ozean des Unwissens ist, ist auch der Sinn nur ein Tropfen im Ozean des Unsinns — und für die Sinnfelder dürfte es ähnlich sein.  

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