Am 18.10.2022 um 12:00 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



Moin Karl, 

im Vergleich mit Heims mathematisch-idealistischen 12d-Spekulationen kommen Barads Interpretationen der Verschränkungs-Experimente eher physikalisch-realistisch daher, bleiben aber nicht minder spekulativ. Wie Deine obigen Sätze zeigen, scheinst Du ihr kritiklos zu folgen. Dabei handelt es sich bloß um dogmatische Glaubenssätze. Warum immer wieder diese metaphysischen Überhöhungen? Bohr war seinerzeit bescheidener als er sich mit seinem Phänomenverständnis noch auf die Experimentiersituation bezog. Ich halte das Universum auch für verehrungswürdig und neige zum Kniefall vor dem faszinierenden Sternenhimmel in klarer Nacht weitab der Stadt. Mir liegt es allerdings fern, vornehmlich mich oder das göttlich übersteigerte Menschliche darin sehen zu wollen. Welch eine Anmaßung! 


Insoweit menschlicher Erkenntnis vor den Schranken bislang nicht erfassbarer Dimensionen Einhalt geboten wird, bleiben diese utopisch und somit notwendigerweise Spekulation (nicht weniger als z.B. Elemente der Stringtheorie, wonach deren topologische Struktur durch kompaktifizierte Dimensionen beschrieben ist).

Wenn man jedoch bedenkt, wie weit menschlicher Forschungsdrang und -erfolg zu mittlerweile absolut erstaunlicher Kenntnis - gleichermaßen im Mikro- und Makrobereich dieser Lebenswelt - geführt hat, verbietet sich m.E. eine Herabwürdigung jedweder seriös betriebener Forschungsarbeit. Und Burkhard Heim eben diese abzusprechen, kann eigentlich nur darauf zurückzuführen sein, dass Du seine Arbeiten nicht kennst. Dabei sollte Dir als Mathematiker der Zugang zu Heims Ausführungen leichter gelingen, als es Menschen ohne diese Kenntnisse vermögen würden.


Gleichwohl ist die von Heim unorthodox entwickelte Mathematik einer mehrdimensionalen Fouriertransformation schwer zugänglich und offenbar war auch er selbst von den sich damit aufspannenden komplexen Symmetrien überwältigt. Du weißt - wie ich auch - um die elementare Bedeutung von Symmetrien.


Heim sah hinter diesen faszinierenden Strukturen eine allumfassende Intelligenz, die Du seinerzeit als eine kosmische benannt hast. Wo ist das Problem, wenn Heim diese Intelligenz einer Art Göttlichkeit (obgleich er sicherlich kein naiv religiöser Zeitgenosse war) zuschrieb und damit Leben und Lebenswelt nicht als pures Zufallsprodukt, sondern als bewundernswerte Entstehung wertete.


Was mein Nervensystem strapaziert (um bei Deinem Terminus zu bleiben), ist die stets reflexartig hervorgebrachte Geringschätzung von Menschen, die benannte Grenzen der Erkenntnis metaphysisch zu transzendieren suchen. Metaphysik als allgemein anerkannte philosophische Teildisziplin hinterfragt Phänomene, die mit bekannter Physik nicht erklärbar sind und somit hinter dieser verbleiben. Das bietet natürlich Raum für Spekulation aber eben auch den Zugang zu einer Spiritualität, die tief in die Begrifflichkeit von WERDEN und SEIN hinein und zur klassischen Frage der Metaphysik führt, warum SEIENDES überhaupt existiert und nicht vielmehr ein NICHTSEIN.


Sofern eben Metaphysik sich nicht in „dogmatischen Glaubenssätzen“ verstrickt, ist sie ein legitimer „Apparat“ (um damit nun zu Barad überzuleiten) als stets – im Sinne eines Erkenntniszuwachses – erweiterbare gedanklich-diskursive Erfahrungspraxis.


Barad geht es im Grunde nicht (wenn überhaupt nur am Rande) um klassische Metaphysik, sondern vornehmlich um Erfahrungspraxis bezogen auf die konkret erkennbare Lebenswelt in der es ebenso beliebige Grenzen der Erkenntnis gibt. Es sind jedoch auch Grenzen, die durch den hergebrachten Repräsentationalismus (begründet vornehmlich durch Decartes‘ Rationalismus und die Empiristen Locke/Hume) und somit durch künstlich geschaffene Dualismen gesetzt sind.


Es sind (die hier bereits im Konstruktivismus-Diskurs angesprochenen) Intentionalitätsprobleme, wonach intentionale Geisteszustände nicht die reale Wirklichkeit der Lebenswelt, sondern lediglich die im Gehirn auf Ideen und Vorstellungen resp. Fixierungen bezogenen „Repräsentationen“ abbilden. Somit stellt sich Barad in ihrer These gegen Repräsentationalismus und daraus sich entwickelnde Dichotomie.


Ungewöhnlich mag ihr Bezug auf physikalische Optik anmuten, wenn sie von der repräsentationalistischen Falle spricht, wonach diese durch Reflexion als Wahrnehmung eines Objektes, eben dieses reflexiv nicht so widerspiegeln kann, wie es wirklich ist. Dieses Faktum intentionaler Inexistenz definiert Barad in Anlehnung an benannten Konstruktivismus erweiternd auch als Sozialkonstruktivismus.


Streuung, im Gegensatz zu Reflektion (also ein Wahrnehmungsobjekt diffraktiv gelesen), bietet nach Barads Ansicht eine durch Beugung erhellende Einsicht auf Gegenständlichkeit der Lebenswelt:

diffraction can serve as a useful counterpoint to reflection: both are optical phenomena, but whereas reflection is about mirroring and sameness, diffraction attends to patterns of difference.“


Dieser Denkansatz Barads, den sie in ihrer These vom agentiellen Realismus beschreibt, hat nichts mit „spekulativen Verschränkungs-Experimenten“ zu tun, sondern ist herausragende Facharbeit, der man durchaus folgen kann.


So sollte es lohnenswert sein, in einem weiteren Beitrag nochmal auf Barad zurückzukommen.



Bester Gruß und moin moin - Karl



PS: zur nachfolgenden Frage folgt die Antwort später, sie verlangt deutlich mehr Aufwand, sofern „Schritt für SchrittW zu erläutern gefordert





"The Possibilist Transactional Interpretation" PTI Ruth Kastners bleibt näher am Experiment und ist insofern auch nachvollziehbarer, ohne dass die "Mysterien der Quantenwelt“ wegdiskutiert würden. Ich hatte in der Mail an JH ja angedeutet wie die PTI zur quantitativen Bewusstseinstheorie taugte, um beim Thread zu blieben. Wie gelangst Du denn im Detail, Schritt für Schritt formal wie empirisch nachvollziehbar und nicht nur vage ahnungsweise, von der Quantenverschränkung zur „essentiell notwendigen Intra-Action für alles Leben“? 


Ich hatte in besagtem Beitrag vom 5.9.19 auch von „Tersteegens Freiheit“ gesprochen. Daher reiche ich sein Gedicht hier nach:

Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne
mein Heim ist nicht von dieser Zeit.
Gerhard Tersteegen (1697 – 1769)


Das ist schön gedichtet vom Mystiker Tersteegen. Die ersten beiden Zeilen hörte ich von kleinauf immer wieder bei meiner Mutter in Anbetracht des häufigen Wolkenziehens hier im Norden. Der Mystiker hatte die „große Ewigkeit“ vielleicht bei der Andacht vor dem nächtlichen Sternenhimmel erahnt und sich dort hineingesehnt. Das können wohl viele Menschen nachfühlen, aber warum daraus einen Glaubensdogmatismus machen? Mit dem gerieten ja schon die Mystiker in Konflikt. 

Zu wiederholen lohnt sich auch das Gedicht Emily Dickinsons (1830 - 1886): 

”Ich hauste so als wär' Ich draußen, 
Und bloß mein Körper drin
Bis eine Kraft mich da entdeckte 
Und pflanzt' den Kern mir ein — 
Da wandte sich der Geist zum Staub 
`Du kennst mich, alter Freund',
Die Zeit ging aus um's zu berichten
Und traf die Ewigkeit.“ 

IT






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