Liebe ausdauernd und bereichernd Streitende,

ich habe zum Thema Glauben ein paar Zeilen geschrieben - in weiterer Verfolgung meines „Stollen" (leider kein Christstollen, den gibt es später..)- Modells. 

Zuvor noch vielen Dank für Deine anregenden Gedanken zu " vorauseilenden und rückläufigen Möglichkeitswellen“, zu Goethe, Grimm und Novalis: ganz offenbar haben meine Bilder in Dir Resonanz gefunden, und es kommen bereichernde Bilder und Gedanken auf - das belebt!

Hier meine Zeilen:

Die Art, in der die zu Grunde liegenden Becken oder Schalen – vermittelt über ihre Verwirklichungen miteinander interagieren ist die der ganzheitlichen, die einer Becken- oder Schalenensemble als Ganzes betreffenden Strukturveränderung. Diese kann als Schwingen, als in Resonanz geraten bezeichnet werden. Es ist der Körper als Ganzes, der sounding board, die Klangschale als Ganze, die hier dynamisiert und zu Veränderungen im Sinn des Eingehens einer Mitschwingenden Gemeinsamkeit veranlasst werden. Es ist nicht der Körper in seinen einzelnen Gliedern, sondern dessen strukturierendes Prinzip, die Seele, die mitschwingt, oder das Zentrum des Gesamt, als Herz, das berührt wird.

Im Glauben wird dieses strukturierende Prinzip, der jeder Vereinzelung logisch (nicht zeitlich) vorausliegende gemeinsame Grund zusammen mit gedachten, erlebten, gefühlten Verwirklichungen gelebt.


Indem ich einen Film schaue, den ich schon gut kenne, begebe ich mich in eine bereits zuvor bewohnte Ganzheit, entsprechend in dem gegenwärtig genutzten Bild in einen vertrauten Stollen. Benutze ich Denkbahnen und körperliche Routinen, gilt dasselbe. Religion fragt nicht nach einzelnen Stollen und Stollenbewohnern, sondern nach Bewohnern und Stollen überhaupt, sie geht nicht auf Strukturen, sondern auf das Strukturierungsprinzip, in immer weiter ausgreifenden und schließlich das Denkvermögen übersteigendem Maß. Fühlen ist anders organisiert, indem es von vornherein als Zusammenhang und als Zusammenhängen auftritt. Hier das das Gesamt als Gesamt präsent, und seine (empirische, aus Verstandessicht unbestreitbare) Jeweiigkeit wird erst vom Verstand begriffen. 

Dieses grundsätzliche als unauflösbares Gesamt Gegebensein lässt sich nicht in Sprache beschreiben, weil das Prinzip der Sprache gerade in de Vereinzelung, in der Zerlegung in Kategorien, Begriffe, Zeichen besteht. Aus der Froschperspektive des je Vereinzelten ist die Ebene des Gesamt die Meta-Ebene, aber dieser Ausdruck ist leblos, und die Meta-Ebene wird als nachgängige Zusammenführung etwas zuerst als Getrennt Gegebenem konstruiert.

Zugleich sind wir keine Götter, und das unserer Seele und unserem Fühlen gegeben „ursprünglich Ganzheitliche“ steht in menschlichem Widerspruch zu unserer Fähigkeit der Distanzbildung und des begrifflichen Umgreifens aus der Distanz heraus.

Dieses Paradox wird anerkannt im Glauben, der einsieht, dass der menschlich-begriffliche Zugang unvollkommen ist, und der sich in diese Unvollkommenheit einfügt. Gerade das christliche Gottesbild besteht aus einer Paradoxie, die nicht verstandesgemäß aufgelöst werden kann und deren Befassung deshalb nur als Annäherung, nicht als Erreichen gedacht wird. 

Die Individuation von Einzelnem aus dem Ganzen gehört zu diesem Wunder, und das Strukturprinzip der Spannung zwischen Ganzem und individuiertem Einzelnen ist Thema der Religion von vornherein: am Anfang war der Logos, heißt es daher, und es geht mit der individuierenden Genese distinkter Qualitäten als jeweiligen Innen weiter.

Dieser Gegensatz wird dabei von vornherein und zu Recht nicht als statisch gedacht, sofern der Mensch über ihn nachdenkt und selbst von ihm betroffen ist: ihm wird Atem eingehaucht, Rauch, pneuma, spiritus.

Diese Dynamik von Enge und Weite, Dichte und Verströmen, Innesein und Auflösung in etwas, das weder innen noch außen ist wird gesehen, sie löst aber nicht das Rätsel der Paradoxie von Ganzheit und Teil, von jeweiligem Innen und alle Innen umfassenden Umgreifendem (Jaspers).

Viele Grüße und in diesem Sinne einen schönen ersten Advent!


Thomas


Am 30.11.2024 um 01:19 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:


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Am 29.11.2024 um 10:02 schrieb waldemar hammel über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:




lieber karl,

mich zb hindert sozusagen meine ganze lebensgeschichte am wirklich freien denken können, denn diese hat mich in gewisse denk- und insbesondere gefühls- loipen hineingezwungen, innerhalb derer ich zwar mich frei fühle, denen ich aber mehr oder weniger in fühlen und daher auch denken/überlegen nicht entkommen kann

Vermutlich teilst Du dieses Schicksal mit sehr vielen Menschen und dieses Schicksal ist unausweichliche Lebensrealität. Mit der „Spannung“ leben lernen heißt Überleben lernen. Kann es ein Leben ohne Spannung (i.A. als Problem gesehen) geben?
Gibt es die sog. Königswege des Lebens wirklich?

Du wirst den Dalai Lama vermutlich ablehnen, ich habe einige seiner Bücher gelesen, da geht es immer auch um Mitgefühl, doch eine Passage habe ich besonders im Gedächtnis behalten. Zu Lebenssinn und Lebensglück:

Da schrieb er, dass er oft von privilegierten, reichen Menschen in deren Zuhause eingeladen wurde. Alles war dort vorhanden, jeder Luxus, prachtvolle Gärten, Hausangestellte, vorzügliches Essen und als er in deren noblen Badezimmern die angehäuften Medikamente gegen Stress, Herzbeschwerden, Bluthochdruck usf. sah, wurde ihm bewusst, dass in diesen Kreisen kein Lebenssinn, kein wirkliches Glück vorhanden ist.

Des Öfteren wird Dir eine gute Tasse Kaffee oder das Mit-Erleben Deiner Tiere mehr Lebensglück und -Sinn vermitteln, als eben der Luxus dieser Welt dies könnte.

soweit für den Augenblick
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl


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