Lieber Ingo,

ich zögere mit der Replik, und bin unsicher, ob es überhaupt richtig war, hier nochmal zu intervenieren, und zwar weil ich nicht nur über damalige Anredegepflogenheiten nicht mehr im Bilde bin (wenn man zunächst einmal vorsichtshalber die default-„Sie“-Variante wählt, wird man hier aber offenbar gleich als „feiner Herr“ verunglimpft), sondern auch natürlich nicht weiß und nicht nachgelesen habe, was alles schon diskutiert und „bis zur Sinnlosigkeit“ wiederholt wurde während meiner Absenz, so daß ich nur ärgerliche Redundanz zu erzeugen riskiere.

Vielleicht daher nur soviel als kurze Rückmeldung zu zwei Punkten nach der Lektüre des Barrett/Zahl-Textes (danke dafür, ich lag wohl auch falsch mit meiner Zitat/Textkritik):
1.) Mag ja wichtig sein, daß von den AutorInnen dieser HADD-Faktor stark relativiert wird, da er alleine kaum etwas erklären könne, evtl. nur als „extra factor“ in Frage komme - und natürlich jederzeit „overridden“ werden könne. Wie ja überhaupt dort immer unterschieden wird zwischen spontanen/intuitiven Einschätzungen und reflektierten Haltungen. Wenn wir uns darauf einigen würden, daß wir hier nur über „reflektierten Glauben“ sprechen, würde doch all diesen psychologi(sti)schen Einlassungen prinzipiell viel weniger Gewicht beizumessen sein, oder?
2.) Fand ich interessant, daß diese CSR (cognitive science of religion) Glauben und Unglauben vollkommen „symmetrisch“ behandelt (wie es ja auch mal in leicht anderem Kontext das „strong programme“ der Wissenssoziologie gefordert hatte): nicht nur Religiösität, sondern auch der Atheismua hat, so wird hier gesagt, seine nachvollziehbaren psychologischen (und mindestens genauso tendenziell pathologischen!) Hintergründe. Auch der Atheist muß sich also (von der CSR) „vorwerfen“ lassen, daß er nur aus allzumenschlichen Gründen der Schwäche, der Veranlagung, des fehlenden Weltvertrauens (oder was sie sonst alles anführen mögen, offenbar gehört z.B. „Urbanität“ dazu…) nicht glauben mag. (Und sicher könnte man bald experimentalpsychologisch ein HNMRD nachweisen, ein „hypersensitive naturalistic-materialistic reduction device“ nachweisen, wenn man nur wollte; bei starker Ausprägung: zynisch-pessimistischer Realismus/Determinismus, bei mittlerer Ausprägung: gesunder Menschenverstand, aber an jedem Freitag den 13. ist man trotzdem ganz vorsichtig, bei niedriger Ausprägung: tägliches Horoskop-Lesen und Lourdes-Wasser im Haus…).
Ok, irony off: aber damit wäre dann ja auch fast alles zur Tragweite dieses Erklärungstyps gesagt, denn man hätte damit beide Seiten gleichermaßen psychologisierend „abgefertigt“ und wir stehen bei der eigentlich philosophisch interessierenden Frage dieser Kontroverse, wie ich vermutet hatte, wieder ganz am Anfang.
Noch ein Wort zur „Beweislast-Umkehr“ (die du mir vorwirfst): meine Anregung mit der Adaption des „Wunder“-Arguments war ja genau die, keine Beweislastpflichten mehr zuzuweisen, sondern den reinen Fakt des zweitausendjahre alten Glaubens als „Beweis“ gelten zu lassen. Wie bei dem Streit Realismus vs. Konstruktivismus eben: niemand muß mehr etwas „beweisen“, sondern daß die Technik funktioniert, IST schon der Beweis. Das schien mir der Kniff des Arguments. Aber vielleicht kann man ihn tatsächlich nicht so anwenden, wie ich das unorthodoxerweise vorgeschlagen habe.

Und jetzt lese ich mal bald noch Gödels Gottesbeweis nach, denn den hab ich auch bisher versäumt.

Ciao

Joachim

 

Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>
Gesendet: Dienstag, 9. Juli 2024 22:22
An: philweb <philweb@lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann@tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Der Tod der Wahrheit (hjn)

 

Moin Joachim, 

 

wir hatten uns seinerzeit geduzt, deshalb behalte ich es vorerst bei. Meine Quelle hatte ich in der Mail von 21.5.24 genannt: "Barrett dubbed the cognitive system responsible for detection intentional agency the Hypersensitive Agency Detection Device (HADD). HADD is regarded as part of our automatic, reflexive, intuitive processing system and subject to being over-ridden by our reflective system.“ Quelle: "Cognition, Evolution, and Religion“ by Barrett and Zahl. Hier der Link (siehe speziell S. 12):

 

https://www.researchgate.net/publication/304989997_Cognition_evolution_and_religion

 

Der evolutionäre Ausgang des HADD ist in der Überreaktion auf heute nur noch vermeintliche Gefahrensituationen zu sehen. Wird sie allerdings nicht reflexiv überdacht, bleibt sie wirksam. Trotz der basalen Hirnphysiologie kann Philosophie selbstredend hilfreich sein. Dass Du allerdings von einer noch ausstehenden endgültigen Widerlegung von Gottesglauben schreibst, kehrt die Beweislast bloß um. Zudem muss klar benannt werden, worum es eigentlich geht. Aber darüber hatten wir hier doch schon bis zur Sinnlosigkeit wiederholend geschrieben. Als anerkennenswürdige Ausnahme habe ich Gödel in Erinnerung, der sich nicht vor einem Gottesbeweis drückte und sich damit nachvollziehbar und kritisierbar verständlich machte (vgl. meine Mail vom 19.3.22 an RF).    

 

IT        

 

 



Am 09.07.2024 um 18:17 schrieb Landkammer, Joachim über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

 

Lieber Herr Tessmann,

darf ich zunächst mal rein „philologisch“ etwas pingelig sein/werden? Irgendwas stimmt mit dem englischen Zitat nicht, der Satz, der mit „To distinguish“ beginnt, funktioniert grammatikalisch doch nicht ganz, oder? Ich hab das bißchen recherchiert, finde aber bis jetzt nur, daß der Text offenbar aus Justin L. Barretts Aufsatz „Exploring Religion`s Basement: The Cognitive Sciene of Religion“ stammt, den man (u.a.?) im „Handbook of the Psychology of Religion and Spirituality“, und zwar leider in dessen ZWEITER Auflage (ich finde nur die erste von 2006, in der der Aufsatz nicht drin ist) von 2013. Dort aber (und ich habe nur eine blöde Google-Books-Vorschau) geht dieser Satz aber etwas anders weiter, v.a.: Barrett nennt dort seine HADD-Benennung selbst „clumsy“ (plump, unbeholfen, ungeschickt, tollpatschig), was ja diese Experten-Fachsprachen-Aura, mit der Sie diese Kategorien hier präsentieren, etwas relativieren dürfte.
Mich würde jedenfalls zunächst der Originaltext in vollständiger und richtiger Gestalt von Barrett interessieren, haben Sie da ein pdf oder was frei Herunterladbares für mich? Davon unabhängig (und vielleicht daher etwas voreilig) würde ich allerdings vermuten, daß Religionspsychologie uns hier (wie bei anderen genuin „philosophischen“ Problemen, Sie kennen die Geschichte des philosophischen Psychologie-Bashings spätestens seit Husserl) kaum weiterhilft, weil sie ja immer dazu tendiert, zu jeder menschlichen Handlungs- und Verhaltensweise flugs ein entsprechendes Syndrom, eine Tendenz, eine menschlich/allzumenschliche Neigung auszumachen, und damit die Sache für „erklärt“ zu erklären: für die Liebe gibt’s die Libido, für den Haß den Todestrieb, für Diebstahl und Neid das Besitzsyndrom, für das Niesen den Niesreiz, für jede optische Täuschung die entsprechenden „Eigen“-Aktivitäten des Auges, das sich zurecht“sieht“, was gar nicht da ist. Und jetzt eben auch eine „Agency Detection Device“ für die Annahme übernatürlicher Einwirkungen. Alles sehr schön – nur: so what? Welchen Status haben solche Erklärungen? Was „erklären“ sie wirklich? Haben sie nicht genau zuallererst die pseudo-epistemologische Funktion, die Sie am Ende selbst andeuten, wenn Sie rhetorisch fragen: „können wir es nicht dabei belassen“? Genau darum scheint es tatsächlich zu gehen: wir haben ein „Device“ identifiziert, hervorragend, fertig, dabei „belassen“ wir es jetzt. Psychologismen sind eben, hier wie anderswo, nichts anders als pseudo-erklärende Stop-Argumente, reduktionistische Schubladen-Verschließ-Einfälle: rein damit mit der Frage, und zumachen. Nächstes Problem her, nächstes Paper für die „Psychological Experimental Research Review“ fertigmachen…
Die armen Philosophen aber, die keine solchen Schubladen (und keine solchen Paper-verschlingende Fachzeitschriften) haben und die es mit ihrer verbohrten Sturheit eben „dabei nicht belassen“ wollen, bestehen bockig darauf, daß mit all diesen angeblichen, experimentalpsychologisch so wunderbar „aufgedeckten“ und „nachgewiesenen“ menschlichen Wahrnehmungs/Denk/Spekulier-Leistungen ja die Frage nach deren WAHRHEIT nicht „geklärt“ ist, die Frage nach dem „Wesen“ von (etwa) Liebe, Haß, Tod, Besitz, Wirklichkeit und „Mehr-als-Wirklichkeit“. Mit dem Versuch eines (ebenfalls very clumsy) Gleichnisses: natürlich „tendieren“ wir dazu, uns Bilder zu machen, auch dort, wo es gar keine gibt, also z.B. sah man einstmals ein erkennbares Gesicht auf dem Mond. Man konnte von einem Mann im Mond reden, weil man ihn „sah“. Und da konnten die Psychologen nun lange darüber reden, daß das nur eine allzumenschliche anthropomorphe Einbildung ist, tatsächlich nicht mehr daran geglaubt hat man trotzdem erst, als man eben hingefahren ist und gesehen hat: da ist ja tatsächlich niemand, nur Krater und Geröll. Erst dann, erst mit diesem (negativen) Faktizitäts-Beweis, wird die Illusion wirklich dementiert, völlig unabhängig davon, wie wissenschaftlich-exakt man ihr Zustandekommen erklärt hat. Und beim Gottesglauben steht eben diese endgültige Widerlegung noch aus: wir haben eben noch nicht „überall nachgesehen“ (und können das vielleicht ja auch nicht), darum wird dieser Glaube von all diesen psychologischen Erklärungen seiner Existenz überhaupt nicht tangiert. Es geht um die Existenz Gottes, nicht die des Gottesglaubens.
Aber wie gesagt: gern les ich mir auch erst mal diesen Religionspsychologen-Aufsatz durch…
J. Landkammer