Lieber Ingo,
es ist schwer bis unmöglich, in solche ganz „groß“ gedachten Zusammenhänge, die einem als immer schon systemisch funktionierend, kooperierend, zusammengehörend präsentiert werden, anders als entweder vage beipflichtend oder nachgewiesen unterinformiert und dilettantisch-provokatorisch einzudringen (was dann den Reflex der Eingeweihten provoziert: „der muß halt noch belehrt werden, der hats noch nicht kapiert, der muß erst mal noch das und das und das lesen, usw.“). Ich kann daher gegen deine Ausführungen nur einen sehr vorläufigen und unpräzisen, zugegebenermaßen nicht sehr weit führenden Vorbehalt formulieren, der in etwa lauten würde: es geht mir in deiner (Gedanken-)Welt etwas zu prästabiliert „harmonisch“, zu vorhersehbar unproblematisch, zu optimistisch und „lösungsorientiert“ zu. Symptomatisch und „verräterisch“ scheint mir dann eine Wendung wie dein „An uns liegt es, sie [du meintest „Mittel und Zwecke“, aber man könnte auch anderes einsetzen] philosophisch zusammenzudenken“. Warum „zusammen-“? Ich finde es philosophisch wichtiger, sinnvoller, notwendiger, Dinge „auseinander“-zudenken, denn „zusammen“-gebracht werden sie ja doch sowieso ständig (im unter Funktionszwang stehenden Alltag, von pragmatischen Politikern und propagandistischen Ideologen), ständig werden uns doch Passungen, Übereinstimmungen, Ausgleichungen, Null-Summen-Spielchen und Do-ut-Des-Normen verschiedenster Art suggeriert, als ob die ganze Welt „in der Summe“ (nochmal: im god´s eye view) eine perfekt funktionierende Maschine sei. Ist nicht auch das noch ein Erbe von Hegels alter idealistischer „real=rational“-Gleichung, in etwas nachgerüsteter modernisierter naturwissenschaftlicher und „kulturalistisch“-modisch aufgepeppter (Ver-)Kleidung? Müßte nicht post-hegelianische Bescheidenheit und der vielbeschworene Abschied von den „großen Erzählungen“ uns dazu einladen, die Dinge vielleicht endlich mal auch philosophisch (gerade auch philosophisch) „eine Nummer kleiner“ zu denken, was z.B. heißen würde, daß etwa ein Problem wie das der „Gewalt“ schon dadurch ins hoffnungslos Abstrakte zerredet wird, daß sie mit Kosmologie, Geburt und Tod „zusammen-gedacht“ wird? (Das war ja z.B. der Sinn meines anfänglichen Hinweises auf Clausewitz, der völlig „unphilosophisch“ und abstraktionsresistent über „den“ Krieg nachdenkt, und zwar den der entscheidungstragenden Menschen in ihren jeweiligen Situationen, und nicht über den „Krieg allgemein“ und schon gar nicht über „Krieg der Sterne“ oder der Galaxien oder der Mikroben und Atome…). Und ein Symptom dieses Abgleitens ins Abstrakt-Immer-Irgendwie-Richtige wäre ja z.B., daß die Phänomene, die eben nicht an einem harmonischen „Ausgleich“ von „Kooperation und Konkurrenz“ orientiert sind, wie etwa der radikale Pazifismus (oder der Suizid oder andere „existentiellen“ Entscheidungen) ins Pathologische abgeschoben werden, weil sie nicht in die großen Kategorien „Evolution“, „Selektion“, „Ordnung“ passen.
Ich weiß nicht, vielleicht ist es ja nur eine Frage des persönlichen (Denk)Stils oder des „Charakters“ (wie Fichte vermutet hatte) – oder vielleicht doch eine Frage der geistigen Kapazität. Wenn Letzteres, dann gestehe ich: ich bin einfach (auch hier) unter dem Niveau. Trotzdem (und gerade deswegen): weiter unbelehrbar.
JL