Am 10.08.2025 um 11:31 schrieb Joseph Hipp über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Mathematisch hochstilisiertes Erleben gäbe der Welt Struktur,

1. Da mag was Wahres dran sein. Es ist davon auszugehen, dass auch Mathematik zuerst empirisch erlebt wird, vor drei Äpfeln, drei Häusern ausgehend werden die Striche des Paul Lorenzen gedacht, anschließend bekommen sie ein Wort, in diesem Fall eine Zahl, und wiederum mit Francois Viete einen Buchstaben. Mit den Junktoren kann es so ähnlich gedacht werden. Die Kombinationen kommen noch dazu. So gesehen könnte Mathematik rekursiv empirisch entstehen. Von wegen Vernunft als Gegenteil. Was steht diesem Rauswurf der Ratio entgegen? Denn was bleibt dann für sie übrig? 

Lorenzen hat ja „Regeln vernünftigen Argumentierens“ angegeben, nach denen aus dem Zählen und Folgern die Mathematik entwickelt werden kann. Die Ratio reicht dabei nicht weiter als die diese Regeln. Darüber hinaus geht nach Einstein die Intuition, d.h. die Ahnungen und Einfälle, nach denen neue Strukturen vermutet und bewiesen werden können, die weit über die Lebenswelt hinaus die kosmische Welt der Ereignisse einbeziehen.  

Ich bin immer wieder erstaunt und begeistert darüber, was aus dem trivialen Zählen heraus alles an Strukturen entwickelt worden ist. Mit Kato hatten wir ja die Struktur der „Garben“ erwähnt, mit denen Jean Leray bemerkenswerterweise während der 1940er als Franzose in deutscher Gefangenschaft die algebraische Geometrie erweiterte. So wie Gärten auf verschiedenem Land wachsen können, gibt es Garben über unterschiedlichen mathematischen Objekten. Zahlenräume werden zu Körpern verallgemeinert, über die Vektorräume gebildet werden, die wiederum zu Fasern von Vektorraumbündeln werden können. Und Verktorraumbündel werden zu Garben, wenn ein Vektorraum durch eine abelsche Gruppe ersetzt wird. All das ermöglicht die Kategorientheorie. Also schematisch: Zählen —> Zahl,  Zahlenraum —> Körper, Vektor —> Vektorraum, Vektorraum —> Vektorraumbündel, Faserbündel —> Garbe. 

Das Faszinierende dabei ist, dass mit Garben aus lokalen Überschneidungen globale Zusammenhänge erschlossen werden können, weshalb auch schon mathematisch Philosophierende und KI’ler an der Garbentheorie gefallen gefunden haben: 

https://noeon.ai/blog/sheaf-theory/
 
2. Dass eine Person ab einem bestimmten Zeitpunkt auch ohne äußere Empfindungen und demnach ohne Empirie denkt, verhindert das den Gedanken, dass die innere Empirie, also das innen ehemals von außen bewirkte, dann wirkt? Dazu gehören würden nicht nur das Alltagserleben, sondern auch das hochstilisierte Erleben eines Immanuel Kant oder das von dir so gedachte "mathematisch hochstilisierte Erleben"?

Ich halte die Unterscheidung von Alltags- und Wissenschaftserfahrung für sinnvoll. Letztere meine ich mit Empirie, die sich auch mathematischer und technischer Verfahren bedient, während die Alltagserfahrung schlicht erlebt wird und damit ohne Empirie gedacht werden kann. Es gibt ja nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Empfindungen und die äußeren ließen sich nur in einer Isolationskammer minimieren. „Mathematisch hochstilisiertes Erleben“ ist kein Erleben mehr, da zwar von ihm ausgegangen, dann aber von ihm abstrahiert wird. Empirisch mathematisch strukturiert sind nur Ereignisse (der Außenwelt), während Erlebnisse (der Innenwelt) Erfahrungen basieren. Aber es gibt ja Überschneidungen zwischen ihnen, wo die Garbentheorie als Bewusstseinstheorie ins Spiel kommt. Ich stecke damit aber noch in den Anfängen …         

Wie dem auch sei, oder wie deine Antwort auch ausfällt, betone ich immer als Mensch von der Straße, dass ich hochstilisiertes Denken anderen überlasse, bei dem ich mich nicht einmische.

Meinst Du etwa, dass philosophische Fiktionen (auch wenn sie nur sprachlich erfolgen) keine immer schon hochstilisierten Alltagsvorstellungen sind? 

IT