Am 24.04.2024 um 22:57 schrieb waldemar hammel über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



lieber karl,
ich würde Dir ja in allem oben geschriebenen entgegenkommen,
nur zwei punkte stören das bild:

1) - wieso, für mich völlig unverständlich, bezeichnest du dich als
"christen"?, wo du doch auch, genau wie ich, die üblichen christlichen
grundlagen und grund-glaubens-annahmen ablehnst, wie jungfrauengeburt,
das übliche gottbild, usw, und dekalog usw genau wie ich als
allgemein-gültige und uralte kulturalien ansiehst, die das christentum
keineswegs neu-erfunden, sondern schlicht adoptiert und integriert
hat. nach meinem verständnis deiner denkweise bist du längst kein
christ mehr, sondern diesem "nest" längst entwachsen.
so auch ich mit christlich-jüdischen nest-wurzeln diesem, für mich
heute ganzen blödsinn, entwachsen bin, der verwirrt, statt zu
entwirren und das denken so zu klären.
wieso "endet" das bei Dir im weiterhin-(irgendwie also
abgeschwächt)-christsein, und bei mir im feindsein gegenüber allen
religionen ?

Gute Frage“, so reagieren Diskutierende zumeist in Talk-Shows auf Fragen, die nicht so einfach aus dem Stehgreif zu beantworten sind und genau letzteres trifft auch auf Deine Frage zu, lieber Waldemar!

Du kannst Dir sicher gut vorstellen, in welch „seelischen Nöten“ ich mich immer wieder befinde. Katholisch sozialisiert in der Kindheit, Schulzeit/Internat. Welche Chance hat ein Kind, sich unter dem ihm beigebrachten Gottesbild etwas anderes vorzustellen, als eben diesen menschengemachten, bzw. -gedachten Gott? Andere Seelennöte für ein derart geprägtes Kind in dessen Vorstellung sind, dass dieser „liebe Gott“ alles sieht, alles weiß und letztlich alles beinhart beurteilt. Ab wann existiert überhaupt die Chance, dass es sich von diesen Vorstellungen emanzipiert? Vielen Menschen gelingt das nicht ein Leben lang. 

Bei mir ergab sich diese Möglichkeit durch Lesen. Mein Vater hatte hunderte Bücher, aus denen ich heimlich las und es waren Bücher (neben Agatha Christie u.a.), mit vornehmlich philosophischer Literatur, aber auch Tolstoi, Dostojewski et.al. Etwas später Hermann Hesse usw. Dann auch christliche Autoren, u.a. Küng, Pannikar (Das Schweigen Gottes), später auch Werke wie Dialektik der Aufklärung, Hannah Arendt und viele weitere. Dazu beliebige Pflichtlektüre der Schule, „Ansichten eines Clown“ usw. Heute stehen etliche dieser Bücher hier in den Regalen zusammen mit fachtechnischer Literatur und nun kommt's (vermutlich schon mal geschrieben): Ein befreundeter Arzt besuchte mich und fragte mich angesichts dieser Bücherflut, was ich denn mit all diesem Wissen anfangen wollte, da es doch längst in mir läge. Ich wusste zunächst keine Antwort zu geben und erst Tage danach fiel sie mir ein: Es ist der Reiz in Resonanz zu kommen mit einem Buch, d.h. mit dem Denken eines Autors, es bestärkt oder verstört bei Dissonanz. Bei Fachliteratur sieht das natürlich anders aus.

Doch zurück zu Deiner Frage, warum meine Emanzipation von überkommenen Formen religiöser Praxis nicht zu einem finalen Bruch mit dieser führt(e). Ganz einfach, weil ich zu unterscheiden gelernt habe, zwischen aufgesetzten Formen von Religionsvermittlung/-ausübung, zwischen Scheinheiligkeit, jämmerlichem Jenseitskalkül, Pfaffentum, etc. und dem was Religion vom eigentlichen Sinn her sein sollte, nämlich diese religio als eben eine Rückverbindung in Art einer Spiritualität, die mir nicht in Worten, sondern im inneren (Er-)Spüren aufzeigt, dass ich mich als Geistwesen verstehen kann, also eben nicht nur ein dahinvegetierendes Gebilde aus Molekülen bin.

 „Cogito ergo sum“ hat mir nicht gereicht. Das Denken allein macht mich als Persona nicht aus, davon war ich beizeiten überzeugt. Sondern es gibt für mich eine transzendente Sphäre, die ich zwar - wie kein anderer Mensch auch - nicht beschreiben kann und daher letztlich nur durch Metaphorik darstellbar ist. Metaphorik also, die gesamte (kath.) Liturgie ist eine einzige Metaphorik, das können Menschen, die sich keine Gedanken darüber angestellt haben, nicht begreifen. 

Das „Geheimnis des Glaubens“ ist aber auch nicht zu begreifen, es muss geglaubt werden. Hans Küng studierte Theologie in Rom, und wollte von seinem Rektor dort Beweise für die Existenz eines Gottes haben, doch er bekam sie nicht, konnte sie auch nicht bekommen, denn man machte ihm klar, dass Gott weder zu beweisen, noch zu widerlegen ist. Was also tun, wenn man Christ sein soll oder will? Einfach nur blind glauben? Längst nicht mehr mein Ding! Ich wollte immer wissen und nicht glauben müssen, bis ich begriffen habe, dass es über einen Gott kein Wissen geben kann, ansonsten er kein Gott wäre. Man kann ihn nur spüren. „Ihn“ schreibe ich und bin dennoch nicht von diesem „ihm“ überzeugt, denn eine intelligible Wesenheit ist keine reale Entität. „Kosmische Intelligenz“, diesen Begriff habe ich von Ingo T übernommen und das ausgerechnet von einem überzeugten Atheisten! Dennoch finde ich diesen Ausdruck als mir sehr eingängig, um eben diese Wesenheit einer gewissen Begrifflichkeit zuzuführen.

Wenn ich heute Menschen in meinem Umfeld erlebe, die diesen Gott nahezu als einen väterlichen Kumpel sehen oder gar davon sprechen, dass Gott ihnen etwas aufgetragen hat, versuche ich gar nicht erst, sie darauf hinzuweisen, wie naiv noch ein derartiges Gottesbild in heutiger Zeit ist. Natürlich spielt hier die neutestamentliche Überlieferung herein, wenn dieser Christus von seinem Vater spricht und seinen Jüngern aufträgt, diesen auch als solchen zu verstehen. Die bereits erwähnte Metaphorik in ihrer Tiefe zu verstehen, setzt eine grundlegende Beschäftigung mit biblischen Texten (gleichermaßen des Alten wie Neuen Testaments voraus, für mich - wie gesagt - ein Buch des Lebens, für Dich ein nichtsnutziges Pamphlet). Doch wo ist das Problem dabei, wenn man jedem Menschen nach seinem Empfinden, eben nach seiner Facón die freie Entscheidung überlässt, sich mit oder ohne einem Gott, resp. Religion durch das Leben zu bringen.

Und nun noch das Dilemma der Theodizee, der vermeintlichen Verantwortung Gottes für seine „Schöpfung“, für seine Welt? Uferlos“, würde Joseph sagen und das ist es auch. Also warum hänge ich noch dieser Religion an, warum bezeichne ich mich als Christ? Sicher nicht aus einem jämmerlichen Kalkül, das man die „Pascalsche Wettte“ nennt, sondern weil ich – wie oft hier gesagt - von der Existenz einer intelligiblen Wesenheit überzeugt bin. Diese zu „verorten“ ist mir unmöglich, also warum sollte ich mich damit aufhalten oder mich daran abarbeiten? Kann man eine Wesenheit in kosmischen Gefilden verorten? Wo sollte sie residieren? Also halte ich es – wie Du weißt – mit JAHWE: „ICH BIN DA“. Wer das erspüren kann, wird damit in Resonanz kommen können.

Christen sehen sich in der Nachfolge eines Menschen, der biblischer Erzählung gemäß ein Leben vorgelebt hat, wie es dem Menschsein würdig ist: Da geht es um Nächstenliebe und natürlich nicht um esoterisches Geschwätz von „Wir haben uns alle lieb“, sondern um Verantwortung für den Nächsten, den Mitmenschen gegenüber und damit für die Gesellschaft, im christlichen Kontext dann eben in der Gemeinschaft der Gläubigen (was mir ein eher unzugänglicher Passus ist, denn ich frage nicht danach, ob ein Mensch an einen Gott glaubt, um ggf. helfen zu können).

Man muss wahrlich kein Christ sein, um die Ethik der Nächstenliebe zu praktizieren. Doch der Christ sieht am Beispiel dieses Jesus von Nazareth, welche Verantwortung er als Mensch seinen Mitmenschen gegenüber hat. Religion und Christsein bedeutet für mich, in dieser Gemeinschaft diese Verantwortung zu übernehmen und das eben nicht aus besagtem Jenseitskalkül, sondern aus Menschlichkeit und genau diese hat dieser Christus seinerzeit vorgelebt. Zum Ärgernis der Pharisäer, wie es sie diese heute noch gibt. Damals haben sie den Christus ans Kreuz genagelt und betreiben es heute noch, Tag für Tag, weil sie es nicht ertragen können, dass Menschen in ihrer Fürsorge und Liebe für ihre Mitmenschen ein Beispiel geben, wie Menschsein in Gemeinschaft funktionieren soll. 

Das hört sich hier alles sehr salbungsvoll an und diese Vorstellung kollidiert auf brutalste Weise mit der realen Lebenswirklichkeit. So sind es immer nur kleine „Lichter-Spots“ die hoffnungsvoll im Dunkel dieser Welt aufscheinen, eben in der beständigen Hoffnung auf eine „bessere Welt“. Von Hoffnung allerdings  halte ich persönlich nicht viel, etwas hoffen mag löblich, mag beruhigend sein, anpacken, etwas (be)wirken für eine lebenswerte Welt entspricht einem Verantwortungsbewusstsein, das dem täglichen Leben in Gemeinschaft konkret zuträglich ist.

Soweit erst mal für den Augenblick!

KJ