Am 09.10.2022 um 02:57 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Dein jüngster Hinweis, Ingo,  auf meinen Bezug zu Karen Barad (erstmals 2015) zeigt auf meine zwiespältige Einstellung zu ihr. Wie ich schon zuletzt erwähnte, habe ich mich nun wiederum mit ihrem Hauptwerk „meeting the universe halfway“ beschäftigt und zudem aktuelle Publikationen (Interviews etc.) durchgesehen. Es bleibt bei meinem Zwiespalt: Einerseits großes Einvernehmen mit ihren Aussagen zu Verschränkung, dessen Prinzip sie auf die naturwissenschaftliche Praxis projiziert und damit die Verschränkung von Ontologie und Epistemologie (eben auch als interdisziplinäres Forschen der bislang getrennten Wissenschaftszweige) fordert. So liegt es nahe, dass sie mit ihrem „Agential Realism“ eine Gegenposition zu rein konstruktivistischen wie relativistischen Modellen einnehmen will, die sie grundsätzlich ablehnt (wie ich zutiefst ebenso); Vielmehr lebenspraktischen (brückenschlagenden) Bezug haben für mich ihre Darlegungen der ontologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen von Niels Bohrs Quantenexperimenten.



Moin Karl, 

von der Quantenverschränkung zur „Verschränkung" von Wissen und Sein ist es aber ein weiter Weg und bleibt bloße Metaphorik, wenn es nicht detailliert mit Realitätsbezug vorgeführt wird. Josephson verweist in seiner STRUCTURAL THEORY OF EVERYTHING ja auch auf die "Transactional Interpretation of Quantum Mechanics“ TI von Ruth Kastner, die über Cramer (1986) bis auf Wheeler/Feynmann’s Arbeit "Classical Electrodynamics in Terms of Direct Interparticle Action“ von 1949 zurückgeht. Kastner ist in ihrem Buch zur TI wesentlich bescheidener und outet sich darin lediglich als Possibilistin, dem ich vorbehaltlos zustimmen kann. Denn wenn eine Theorie allgemeingültig ist, dann ist es die Stochastik. 

Was hinsichtlich der „Verschränkung“ von Wissen und Sein plausibel ist, scheint mir lediglich die im Operatorformalismus der Quantenmechanik vorgenommene Anwendung von Operatoren (des Wissens) auf Zuständen (des Seins). Das lässt sich nachvollziehbar auf die gesamte Laborpraxis übertragen, wenn es um die Verbindung von menschlichen Tätigkeiten und Laborgeräten geht, schließich sind die gesamten Labore menschengemacht. Aber wie weit reicht dieser Ansatz ins Universum hinaus? Da ist es bescheidener nach der Fetus/Frau-Überlappung die BCI in den Blick zu nehmen und dann die Biosphäre der Erde als Interface zwischen Universum und Geoiden aufzufassen. Wie die Plazenta und das Bewusstsein scheint mir auch das Leben einer Überlappung von Innen und Außen erwachsen. 

Irritierend wirken auf mich ihre für meine Begriffe bisweilen radikalen Hinwendungen zu einem Feminismus (in Anlehnung an Donna Haraways „Queerness“), mitsamt einem (offensichtlich bewusst gewählten) äußeren Erscheinungsbild, die meinem idealistischem Frauenbild entgegenstehen.

Es wäre töricht, auch nur ein einziges Argument dem allzu sehr berechtigten Anliegen resp. Anspruch, die bislang vorherrschenden patriarchalischen Paradigmen zu überwinden, entgegen zu stellen; dennoch erscheinen mir manche Methoden und Ausdrucksformen des radikalen Feminismus nicht weniger abstoßend, als es die weltweit immer noch vorherrschenden patriarchalen Strukturen sind.

„Wovor haben iranische Mullahs Angst?“ war eine in der faz gestellte Frage, mit der hoffnungsvollen Antwort: „vor wütenden Mädchen“. Damit ist einiges zu diesem Thema gesagt und wer wollte diesen „wütenden Mädchen“ nicht den (durchschlagenden) Erfolg ihrer höchst mutigen Aktionen wünschen; ein Anfang ist gemacht.

Mit Barad kann man nur hoffen, dass vor allem auch die technisch-wissenschaftlichen Innovationen genutzt werden, um einen Paradigmenwechsel im genannten Sinne herbeizuführen.



Woher stammt wohl Dein idealistisches Frauenbild? Aus dem Patriarchat natürlich, in dem es selten um die Anerkennung wirklicher Frauen geht. Schon die Verkindlichung von protestierenden jungen Frauen als wütende Mädchen zeugt von patriarchal-ideologischem Sprachgebrauch, der in Journalismus und Politik weit verbreitet ist. Greta Thunberg wurde ja auch wiederholt als Mädchen mit den Zöpfen verunglimpft. Aber sind Mädchen nicht präpubertäre und Frauen postpubertäre weibliche Menschen? Und wird auch bei protestierenden jungen Männern von wütenden Knaben geschrieben? Nebenbeibemerkt: Auch die Pubertät kann als Interface aufgefasst werden: zwischen Neutrum und Geschlechtswesen etwa, ungenauer zwischen Kind und Jugendlichem. Damit haben wir bereits eine strukturelle Vierheit: Plazenta, Bewusstsein, Pubertät, Biosphäre. 

Meine Sympathie hat Barad auch mit ihrem Feminismus. Ich lasse mir gerade Anna Karenina vorlesen, deren Schicksal ist ja neben dem der Effie Briest und Madame Bovary paradigmatisch für das Leiden der Frauen am Patriarchat des 19. Jahrhunderts. Und im Iran stecken die Mullahs sogar noch im Mittelalter. Aber sind wir bis heute wesentlich weiter gekommen? In Italien hat die faschistoide Meloni gerade die Wahl gewonnen, und das für „Gott“, Vaterland und Familie. Mich deprimiert das. Aber in Krisenzeiten haben natürlich die Rechten die Gunst des Volks. 

Die tragischen Frauenschicksale der Karenina, Briest und Bovary sind ja zu Literaturklassikern geworden. Aber gibt es demgegenüber auch weniger tragische weibliche Literaturheldinnen? Mir fallen Mrs. Dalloway und Orlando Virginia Woolfs ein. Und Orlando ist ja auch ein heiter-parodistischer Roman über die „Verschränkungen“ von physischem und sozialem Geschlecht. 

IT