Grad sehe ich diese Mail und möchte zwischen dem Tagesgeschäft hier unbedingt kurz darauf eingehen:  ich sehe überhaupt keinen Grund für eine Entschuldigung, weil Du oder auch Joseph keine spontan formulierte Antworten auf meine (zumeist sehr umfangreichen und obendrein kompliziert formulierten - um nicht zu sagen - verschraubten) Beiträge geben wollt. Das ist m.E. auch gar nicht möglich, wenn man fundiert auf ein Thema bezogen, in einen laufenden Gedankenaustausch eintreten will. 


Beispielsweise könnte ich unmöglich spontan auf Ingos jüngsten Beitrag eingehen und sollte das auch nicht (allenfalls ebenso mit einer Entschuldigung), da die von ihm genannten Themen in jedem Fall zu tieferem Nachdenken anregen, resp. dieses erfordert. 


Gut Ding braucht Zeit, sagt man und die sollten wir uns auch immer nehmen; leicht gesagt allerdings - denn woher soll man sie auch immer nehmen. Ich „stehle“ sie meiner Nachtruhe - besser gesagt, meiner Schlafenszeit, denn die Ruhe der Nacht ist es jja gerade, die mich als „Geliebte“ schon ein ganzes Leben lang begleitet und mir Gedanken schenkt, die mir der Tag verwehrt.


Bester Gruß! - Karl


PS: überdies möchte ich noch sagen, dass ich mit Freude Euren Austausch zur Begrifflichkeit von Wahrheit und Wirklichkeit verfolge. Das lässt mich an Platons „Apfelgleichnis“ denken, das ich hier jüngst zitiert habe: Tauschen zwei Jungs je einen Apfel, hat nach dem Tauschgeschäft jeder auch nur wieder ein Apfel; ganz anders, als wenn sie Gedanken tauschten - dann hätte jeder von ihnen auch den Gedanken des anderen und das kann sehr lehrreich oder zumindest aufschlussreich sein. 

Sofern, wie Joseph es kritisch sieht, ich zu denen gehöre, die - bezogen auf Philosophiegeschichte - lediglich daraus entnommene Theorien, Denkmuster etc. vorstellen, anstatt sie mit neuem, eigenen Denken zu erweitern resp. zu korrigieren, könnte das Platons Geschichte vom Tausch von Äpfeln gleichkommen. Zumindest darauf bezogen, hat der Rückgriff auf Philosophiegeschichte eine aktuell brauchbare Erkenntnis zutage gebracht.


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Am 06.10.2022 um 03:14 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



Entschuldige bitte, dass ich auf deine mail nicht auch noch eingehe, Karl, aber du hast ja mehr kommentiert als kritisiert und einen Kommentar zum Kommentar brauchen wir ja nicht. Ihr schreibt alle viel schneller als ich.

Claus

Am 05.10.2022 um 14:25 schrieb Karl Janssen über PhilWeb:



Am 04.10.2022 um 19:51 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Dass der Wahrnehmungsapparat die Wahrnehmung beeinflusst ist eine Erfahrungstatsache, die ja nicht ernsthaft bestritten werden kann. Und deshalb können wir nichts von der "wirklichen Wirklichkeit" wissen?

Sie wäre danach das, was am Anfang des Verarbeitungsprozesses steht, also möglicherweise gar nichts wie bei Träumen oder Halluzinationen.

Das erinnert etwas an Kants "Ding an sich", nur dass es dabei nicht um Erfahrungszusammenhänge geht, sondern um Strukturen des Erlebens und wohl auch Denkens, die wir nicht überspringen können. (Wir können z.B. nicht in mehr oder weniger als drei Raumdimensionen träumen, jeder nicht geträumte physische Gegenstand ist dreidimensional, das wissen wir schon vorher und ist deshalb nicht Inhalt, sondern Form der Erfahrung.)


Unterschiedliche „Strukturen des Erlebens und wohl auch Denkens, die wir nicht überspringen können“: Das ist die eigentlich zentrale Aussage zur Begrifflichkeit von Wahrheit resp. Wirklichkeit.

Wirklichkeit zu erkennten, ist für mein Teil entscheidender als Aussagen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts zu bewerten, unbenommen selbstverständlich von Wahrheit im Sinne einer „Wahr/Falsch-Aussage und seiner essentiellen Bedeutung z.B. in der technischen Informationsverarbeitung oder eben auch Wahrheit als grundlegendes Element für ein auf Vertrauen bauendes menschliches Miteinander.


Die Vorstellung von Wirklichkeit resp. zu Wahrheit, bezogen auf die gegenständliche Lebenswelt versus ideell lebensweltlicher Zusammenhänge und deren Implikationen. Letztere bergen vornehmlich das Problem jeweils subjektiver Wahrnehmung, als genau der von Dir, Claus, angeführten divergenten Strukturen von Erlebens- und Denkmustern, die dann nahezu unausweichlich zur Ausbildung unterschiedlicher Inferenzen sowie darauf bezogener Aussagen führt.


S. Hawking hat dieses Phänomen mit seinem berühmten „Goldfisch-im-Kugelglas-Beispiel“ aufgezeigt und daraus seine These als „model-dependent realism“ abgeleitet. Gemäß diesem „modellabhängigen Realismus“ ist es sinnlos zu fragen, ob ein (Denk-) Modell wirklich der Wirklichkeit entspricht, also real ist, sondern lediglich, ob es mit der Beobachtung übereinstimmt.


Am Beispiel des Goldfischs im Kugelglas wird deutlich, dass dieser Fisch sein Umfeld alleine deshalb schon anders wahrnimmt, weil es sich ihm durch die Glaskrümmung anders als einem von außen darauf sehenden Beobachter (auch wenn es ebenso ein Fisch wäre) darstellt; dennoch haben beide Wahrnehmungen von Realität die gleiche Gültigkeit, d.h. sie entsprechen aus ihrer jeweiligen Sicht der Wahrheit.


Wirklichkeit im Alltagsverständnis der Menschen entspricht dem, was augenscheinlich - somit als tatsächlich angenommen - existiert. Das entspricht dem klassischen Realismus, demnach die wahrgenommene Gegenständlichkeit und deren spezifische Eigentümlichkeit (etwa eine genetisch festgelegte Farbgebung) eben diesem Wesen entsprechend aufscheint und als solches selbstredend jeweils subjektiv rezipiert wird.


Der im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch übliche Ausdruck benennt diesen naiven Realismus (also die unmittelbar bedenkenlose Wahrnehmung des Lebensumfelds) als „Common-Sense-Realism“; damit wird gewissermaßen die jeweils subjektive Wahrnehmung sowie deren Interpretation von angenommener Realität „vergemeinschaftet“. Mit dieser Art Objektivierung kommt man der „wirklichen Wirklichkeit“ resp. den damit verbundenen Aussagen näher, als mit der Bewertung von Einzelaussagen.

Das entspricht dem Profil der zuletzt von mir hier benannten Kohärenztheorie, wonach eine Aussage (die eben auf subjektiv-rezipierende Wahrnehmung basiert) nur dann wahr ist, resp. der wirklichen Wirklichkeit nahekommt, wenn sie mit der Gesamtheit diesbezüglicher Aussagen übereinstimmt.


Ich denke schon, dass man mit hinreichend pragmatischem Herangehen an Lebenswirklichkeit eine brauchbare Methode zum Umgang mit dem Wahrheitsbegriff (Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Ethik), vor allem aber einen lebenspraktischen Zugang zur gemeinschaftlich wahrgenommenen Wirklichkeit eines jeweiligen Lebensumfelds entwickeln kann. Unter diesem Gesichtspunkt verlieren sich die Implikationen hitziger Dispute zu allen möglichen Theorien und Thesen, wie etwa dem radikalen Konstruktivismus.


Davon unbenommen bleiben jedoch philosophische Betrachtungen, was wirkliche Wirklichkeit bedeutet: sie kann eigentlich nur Inbegriff des Ewigen, Unveränderlichen, somit das absolut optimierte EINE als kosmisches Grundprinzip sein.


Nichts anderes drückt sich in Platons Ideen aus.



Bester Gruß! - Karl



PS: aktuell zur geopolitischen Situation: Wahrheit und Lüge; Wer bewusst lügt, legt mit jeder Lüge einen weiteren Fallstrick auf ein anwachsendes „Lügengewebe“, in dem er sich kurz oder lang selbst verfängt. Hier braucht es wahrlich kein Gebot des Dekalogs, um den Lebensvorteil von Wahrheit zu erkennen und in dementsprechendem Handeln umzusetzen.







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