Lieber Karl,

danke für Deine für mich sehr gut nachvollziehbaren Erläuterungen!

Das Fühlen, das Du ansprichst erfolgt als sinnstiftendes und sinnvolles, es ist ein Erleben von Sinn. Die Sinn-Ebene aber kann durch die Ebene der Quantifizierung und weitreichenden Kategorisierung nicht erreicht werden - das ist auch nicht das Ziel dieser Sandkorn-und-Anderes-Zähl-Ebene. 

Dass es diese Ebene überhaupt gibt, und welche Bedeutung sie z. B. für pflegerische und ärztliche Tätigkeit hat, darüber habe ich kürzlich einen Artikel geschrieben (wieder einmal auf Englisch, weil es bisher kein geeignetes deutschsprachiges Forum dafür findet).

Hier der abstract (ganzer Artikel über researchgate.net zugänglich):

Fröhlich T. The clinical paradox: acting in two worlds in parallel. J Eval Clin Pract. 2022;1‐8. doi:10.1111/jep.13802

Abstract

Background: Centred around the thesis that for those engaged in clinical practice
there are two worlds present in parallel, this article defines the characteristics of the
supposed second, qualitative world. Contrasting these characteristics to those of
the world as seen in continuous metric dimensions of space and time, we derive the
nature of the qualitative elements and their coherent interaction, as well as the rules
governing these dynamic elements' interactions.

Results: The second world claimed to exist turns out to be made of individual worlds
centred in coherent perspectival interaction. Its polycentric agency enacts individual
perspectives and mutual information uptake. This hermeneutical approach conforms
with some recent developments in theory, such as that of Nobel Prize winner Elinor
Ostrom, or the enactment theory of cognitive science.

Conclusions: Following this theoretical process, two practical consequences are
drawn. The first consists of an advanced model of biopsychosocial interaction, as
extensively published throughout the years. The second presents the concept of
quality‐oriented self‐aid groups open to all exposed to or working in care and
healthcare. The corresponding training helps practitioners to consciously and
deliberately move, perceive, and perform in the duplicity of worlds, the one the
conventional quantifying, metric one, the other the mostly rationally unknown world
emerging from qualifying interactive agency.

Sinn kann nur gelebt und erlebt werden, denn er ist von vornherein dynamisch, als Beiklang orchestrierter Kohärenz. Daher ist er nicht gut und nie umfassend abzubilden, sondern, wie gesagt, nur zu leben und nachzuerleben. So viel zu Deinem Argument bzw. zustimmend Zitierten „God is a feeling“.

Herzliche Grüße

Thomas

Am 20.02.2023 um 11:44 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



Am 20.02.2023 um 07:38 schrieb Joseph Hipp über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



> Zu diesem Thema ist ja nun wirklich alles hier schon erörtert und geschrieben worden.

Aber immer mit dem Pro und Kontra vermischt, statt gründlich an die Sachen ran zu gehen. Pro und Kontra oder "mit Einbringen der Überzeugung, Glauben, Meinung, Moral, Sollen" hängt doch zusammen oder nicht? Bestehen bei dem was gedacht werden soll, keine Redundanzen? Wenn ja, können diese hervorgekehrt werden. So wie bei den Wörtern Verantwortung und Moral.


Waldemars Vorstellung von einem Gott als Schimäre, weil ein Gott eben „nicht mit Welt wechselwirken könne“, ist in sich gesehen – also bezogen auf diese Vorstellung – geradewegs eine Schimäre. Mehr noch, es ist eine unhaltbare Behauptung, die ein Schlag ins Gesicht jener ist, die mit gutem Grund an ein göttliches Wesen glauben.

Das heißt nun aber nicht, dass Gottesglauben nicht tatsächlich auch die Form einer Schimäre annehmen kann. Das zeigt sich in Kreisen scheinheiliger Gottesfürchtiger - oder sollte man sagen Gotteskrieger - in den krassest skurrilsten Ausprägungen: Wenn ein selbsternannter Fan der Bayreuther Hügelmusik seine vom heftigen Streichen erschöpften und damit zu Tode gekommenen Orchestermitglieder, allesamt elegant entsorgte Knastbrüder, zu Grabe trägt und sich dabei gen Himmel blickend bekreuzigt, dann muss man mit Bonhoeffer sagen: diesen Gott gibt es nicht, es kann diesen nicht geben, es sei denn, er ist nichts als Schimäre.

Und in diesen Zeiten, von einem kontemplativ denkenden Menschen Gottesglauben oder gar göttlichen Beistand für ein Ende des Angriffskrieges im Osten dieses Kontinents zu erwarten, führt schnurstracks in den Irrsinn einer anthropomorphen Theodizee. Zu allen Zeiten haben Pfaffen ihre heldenhaften Kämpfer gesegnet, allerdings vergeblich, sofern sie es auf diesen von ihnen propagierten einzigen, allwissenden und allgütigen Gott bezogen haben. Auf welche Seite dieser - zu unseligem Treiben animierten - armen Seelen sollte er sich denn schlagen?

Eine Antwort darauf hatte wiederum der mit diesen Dingen vertraut gewesene Bonhoeffer: „diesen Gott gibt es nicht!“

So bin ich mir sicher, dass alle jene, die noch in einem kindlich naiven Gottesbild verhaftet sind; ein Bild übrigens, das in kaum anderer Weise dazu dienen kann, Kindern eine Vorstellung von Gott zu vermitteln. Doch wer es nicht vermag, diese naive Metaphorik im Verlauf des Lebens in eine andere Gottesvorstellung zu transformieren, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein naiv anthropomorphes Gottesbild zu hegen, sehr wahrscheinlich infolge einer nicht hinreichenden diesbezüglichen Bildung.

Das hier Geschriebene ist nicht für Atheisten gedacht, sondern für jene, die Zeitgeist und -geschehen folgend, an ihrem Gottesglauben zu zweifeln beginnen. Ergänzend würde ich dazu sagen: dann sollte man nicht an Gott, sondern an seinem eigenen Glauben resp. an seiner Gottesvorstellung zweifeln.

Und um es ein letztes Mal zu sagen: Ich glaube nicht an einen Gott als „alten weisen Mann“, wie er üblicherweise - in welchen „himmlischen Gefilden“ auch immer – verortet wird. 

God is a feeling“, dieses Zitat eines amerikanischen Philosophen hatte ich hier kürzlich angebracht. Eine sehr simplifizierte Vorstellung eines Gottes, möchte man meinen und dennoch zeigt es in die richtige Richtung. Um Gottes- resp. spirituelle Erfahrung zu gewinnen, muss man das Göttliche fühlen, erspüren, sich schlichtweg damit in Resonanz bringen, wie das Christen im Gebet, Buddhisten in der Meditation und sonstige spirituell veranlagte Menschen in der Kontemplation praktizieren.

Auch Letzteres ist somit nicht für Atheisten geschrieben, denn – sofern sie sich diese Sicht nicht nur einreden, sondern ihr fehlender Bezug auf eine „göttliche Entität“, eben diesem fehlenden „Feeling“ zuzuschreiben ist, können sie schlichtweg keinen Zugang zu einer die reale Lebenswelt transzendierenden Wesenheit haben. 

Kernpunkt dieser Aussage ist nach wie vor: Wer es - aus welchen Gründen immer - nicht vermag, etwas zu sehen, zu fühlen, zu erfassen, was anderen jedoch möglich ist, sollte sich davor hüten, das Vorhandensein derer Erkenntnis resp. Inferenz absolut infrage zu stellen. Das kann jedoch nicht bedeuten, dass derartige Themen nicht zu diskutieren wären.

Das alles hier zum Thema Gott und Geister ist natürlich „Pro und Contra“, Joseph. Aber Dein Ansinnen, diese Positionen sollten „gründlich“ auf ihre Sachlichkeit bezogen, behandelt werden, scheitert daran, dass einerseits – und zwar von mir – mit allen möglichen Be- und Umschreibungen versucht wird, einer modernen Gottesvorstellung das Wort zu reden (man kann es natürlich „pro Gott“ nennen) und anderseits, vornehmlich also von Waldemar, Argumente ins Feld geführt werden, die schlichtweg falsch sind, so etwa, es könne keinen Gott geben, da ein solcher nicht mit Welt wechselwirken kann. Bei diesem „Contra“ geht es nur um eines: die mögliche Existenz eines Gottes mit allen erdenklichen bzw. erfundenen Mitteln zu leugnen und warum? Im Falle Waldemars, weil ihm der gesellschaftlich übliche Gottesbegriff ungeheuer ist; dennoch wohlwissend um die Existenz eines Gottes, nämlich seinem jüdischen, ganz persönlichen Gott (so wie er ihn hier zuzeiten beschrieben hat). Diese Zerrissenheit spricht aus allen seinen diesbezüglichen Einlassungen hier.

Grundsätzlich störend an dieser elenden und leidigen Disputation, wie sie immer wieder hier aufkommt, ist für mich, dass ich bei nahezu jeder sich bietenden Gelegenheit in die „Schublade“ einer Religiösität bzw. einer Gottesvorstellung verbracht werde; wie zuletzt eben Waldemars subtile Zuschreibung in Bezug auf W. Pauli, und damit die assoziative Zuweisung an eine naiv glaubende Community erfolgte.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass hier ohnehin nicht genau gelesen oder verstanden wird, was ich diesbezüglich schreibe. Wie oft habe ich mir schon vorgenommen, endlich mit diesem Thema abzuschließen; nur wer möchte sich schon immer letztlich als als Naivling abstempeln lassen, nur weil er Christ und obendrein Katholik ist und sei es nur in der verstecktesten Form schriftlichen Ausdrucks.

Dabei geht es ja eigentlich gar nicht um Religion und damit um einen wie auch immer angenommenen Gott, sondern um generell Geistiges; da liegt meine verletzliche „Archillesferse“. Ich kann mit „Sandkornzählerei“ und radikaler Reduktion der Lebenswelt auf diese Sandkörner im Plack-Format nichts anfangen und – wiederum zugegeben – fordert das den gleichen Abwehrreflex hervor, wie das bei Waldemar, bezogen auf Religion und Gott, stets der Fall ist.

Nun erst (wieder) mal Schluss zu diesem Thema. Warum nur verfällt man immer wieder dort hinein? Scheinbar ist mehr dahinter, als man es sich eingestehen mag.

Bester Gruß! - Karl


PS: Ja die liebe Zeit, Joseph! Grade habe ich sie verbraten, wobei Wichtigeres zu tun gewesen wäre. Wir hatten hier Zeit als Thema und es bleibt die Frage, ob davon etwas an diesbezüglicher Erkenntnis gewonnen wurde. Doch wir können es gerne nochmal aufgreifen. 



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