Am 01.01.2024 um 15:16 schrieb Rat Frag über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Hallo liebe Liste,
Sehr geehrte stille Mitleserinnen und Mitleser,

da vergleichbare Themen hier bereits behandelt wurden, nehme ich es mal wieder auf, indem ich ein Zitat bringe:
"Keine Religion lässt sich ohne diese Erwartung verstehen: dass eine höhere Macht dem Menschen eine Kraft gibt, mit deren Hilfe er mit schweren Lebenssituationen fertig wird, über sich hinauswächst, Hoffnung fasst. Religion ist kein philosophisches Lehrgebäude, an dessen Inhalte man glauben muss, sondern hat etwas zu tun mit den Grundfragen unseres Lebens. Mit unserem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, auch mit unserer Fehlbarkeit und dass wir unser Leben nicht in der Hand haben."
(taz, „Vielleicht gibt es Gott ja doch“, Jan Feddersen im Interview mit Detlef Pollack)

Ich finde an dieser Aussage exakt drei Dinge interesant:
1. Sie stammt von einer Person, die selbst nicht religiös zu sein scheint, die die Frage, ob sie an einen Gott glaubt, klar und eindeutig mit "Nein" beantwortet.
2. Die Unterscheidung zwischen einem philosophischen Lehrgebäude und Religion. Insbesondere das unterstrichen wird, dass man an die Inhalte eines philosophischen Lehrgebäudes glauben muss.
3. Dass es in der Religion um die "Grundfragen unseres Lebens" gehe.

Ich weiß nicht, ob ich es so interpretieren darf, aber im folgenden Frage-Antwort-Paar spezifiziert Hr. Pollack dann, indem er auf die Hoffnung auf ein "Afterlife" abhebt.
Das mag durch die Formulierung der Frage begründet sein, dort festgestellt, dass viele Ungläubige das Leben selbst als Sinn des Lebens sähen.

Das erscheint mir eien relativ christliche Auffassung von Religion zu bedeuten. In anderen Religionen, z. B. Shitoismus, ist die Frage nach dem Afterlife eher eine Nebensache. Es gibt sogar Religionen, die diese Frage im Grunde verneint haben sollen.
Jedoch gibt es auch westliche Denker "der anderen Seite", die es ähnlich gesehen haben. Zum Beispiel wird von Russell behauptet, er habe Religion in erster Linie als eine Folge menschlicher Todesangst gesehen und auch einige Stellen des "Mythos des Sisyphos" (von Camus) lesen sich so, als sei "das Absurde" eben auch ein Bewusstsein des Todes des Individuums, bzw. verallgemeinert als seine Endlichkeit, nicht bloß als ein Mangel an höheren Sinn.

Wie sieht es die Liste?


Nun habe ich das Interview mit Detlef Pollak gelesen und fand seine Aussagen auf den ersten Blick widersprüchlich. Genau gesehen, entspringen sie einen tief in ihm verankerten religiösem Bewusstsein, das keines oberflächlichen Glaubensbekenntnisses und schon gar nicht eines naiven Gottesglaubens bedarf. 

Der Bericht zeigt, dass er sich sehr tiefgehend und vor allem kritisch mit Religion und ihren bisweilen sehr fragwürdigen Formen der Ausübung auseinander gesetzt hat. Einzig der von der taz gewählte Beitrags-Titel stört mich. Er erinnert mich an die „Pascalsche Wette“, also Blaise Pascals Argument für Gottesglauben, wonach es dem persönlichen Seelenheil zuträglichereEntscheidung sei, an Gott zu glauben, da man dabei „auf der sicheren Seite“ sei, falls es ihn tatsächlich geben sollte. Holm Tetens hat sich seinerzeit darauf berufen und ich hatte es als ein jämmerliches Kalkül bewertet und bleibe natürlich dabei: Sich aus eigener Erkenntnis und aus eigenem Antrieb heraus für das objektiv erkannte und definierte Gute zu entscheiden, führt zu der wirklich guten Tat, dazu braucht es keinen Gottesglauben und kein Gott würde es wert erachten, wenn der Menschen gutes Handeln einzig aus diesem eigennützigen Kalkül erfolgen. 

Religion sollte keinen Bezug im Sinne eines blinden unhinterfragten Glaubens an eine - wie auch immer definierten immaterielle Entität haben, sondern allenfalls Ausdruck einer Rückbindung an ein zuinnerst erfahrenes Geistiges, wofür es selbstredend keinen Begriff im üblichen Sprachgebrauch von Menschen gibt und auch nicht geben kann. Das entspricht der biblischen Offenbarung des Bilderverbots, wobei ich eher von einem Gebot sprechen würde: „Ich bin JAHWE, du kannst dir kein Bild von mir als Gott machen, ich bin (schlichtweg) da!“. 

Darin aber, also im anthropomorphen Gottesbild, liegt bis heute das eigentliche Problem von Religion: Wo die Griechen der Antike schon sagten, wenn sich Dreiecke einen Gott machen, wird dieser ein Dreieck sein, wenn sich Ochsen einen Gott machen, wird dieser ein Ochse sein und wenn Menschen sich einen Gott machen, wird er ein Mensch sein. 

Gottesbilder sind zunächst unabhängig von Religionen. Letztere ist per Definition ein Regelwerk (im christlichen Kontext dem Dekalog folgend), das dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen dienlich sein soll. Damit kommt man zu Waldemars Kritik an Religion als eine „hirngemachte“ Angelegenheit und diese Kritik ist selbstredend angebracht, da mit üblich naivem Religionsverständnis die eigentliche Transzendenz der empirischen Lebenswelt unberücksicht, resp unerkannt bleibt. Daher im Johannesevangelium: „Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht“ (Joh. 1,11).

Was nun D. Pollacks Hoffnung auf ein „Afterlife“ anbelangt, würde ich – unbenommen des o.a. jämmerlich egoistischen Kalküls eines ewigen Lebens in welchen Himmeln auch immer – auf den eigentlichen Sinn und Zweck der irdischen Existenz von Menschen abheben und nochmal Bezug auf meinen letzten Beitrag nehmen:

Himmel und Höllen befinden sich nicht in irgendwelchen kosmischen Gefilden, nicht auf „Wolke Sieben“ und nicht in Dantes Inferno, sondern in habitablen Lebensräumen. Wer es nicht glaubt, sollte persönlich einige Tage das Kriegsgeschehen im Osten Europas oder im Gaza verbringen, oder sich im Gespräch mit Leitenden von Frauenhäusern Auskunft über Ehehöllen einholen. 

Himmlisch könnten Erinnerungen sein, etwa an die erste Liebesbeziehung oder an das empfundene Glück nach der Geburt eines Kindes oder einfach auch nur das Glücksempfinden, wenn man einem bedürftigen Menschen Hilfe geben konnte.

Und Hoffnung? Eigentlich habe ich keinen besonderen Bezug zu diesem Begriff. Kants berühmte Frage: „Was darf ich hoffen?“ liegt eindeutig im Bereich der Religion und Moralität. Bemerkenswert ist, dass er seine Frage nicht als „was hoffe ich?“ stellt, sondern darauf abzielt, was mit gewisser Berechtigung zu hoffen sei, also etwa die Hoffnung auf „Glückseligkeit“, wie er es in seiner Kritik der reinen Vernunft anführt. Diesbezügliche Hoffnung quasi als „Lohn“ für Moralität, für die bedingunslose Bereitschaft, geltende Gesetze und eben moralische Gebote (kat. Imperativ) einzuhalten.

Für meine Empfindung wäre es eher angebracht, das Einhalten gesellschaftlicher wie persönlicher Pflichten eher aus entsprechend innerer Haltung, denn als (mehr oder weniger) zwangsweise Befolgung gesellschaftlicher Regeln abzuleiten. Dann bedarf es keiner Hoffnung, zufolge moralischen Handelns „glückswürdig“ zu werden, sondern Gewissheit zu erlangen, dass moralisches Handeln nicht nur dem Gemeinwesen, sondern reflexiv auch mir selbst - eben in der Empfindung von Glücksmomenten - nützlich sein wird. 

Damit ist auch ein Bezug zu Waldemars infrage stellen von Kants „Ordnungsprinzipien“ gegeben.

wh: „was kant "ordungsprinzipien" nennt, sind hirngemachte ordnungsprinzipien, nicht in welt-selbst verankerte regeln“

Selbstredend fallen Kants „Ordnungsprinzipien“ in die Kategorie seiner prinzipiellen Grundsätze und dort ist seine weitere bedeutende Frage „Was soll ich tun?“ einzuordnen. Also ist diese Frage keinesfalls nur ein „hirngemachtes“ Konstrukt, wenngleich sie selbstredend gehirnlich entwickelt ist. 

Der grundlegende Aspekt seiner Ordnungsprinzipien entspricht einer handlungsleitenden Norm und hat daher unabweisbar eine gesellschaftlich relevante moralische Dimension, im trivialen Sinne einer lebenspraktischen Handlungsbegründung in der Zuordnung von gut oder böse. Insoweit ist dieses Prinzip keinesfalls individuell „hirngemacht“, sondern es ist gesellschaftlich verankerter Teil handlungsorientierter Philosophie.

Es geht also um Ordnung und diese ist prinzipiell sehr wohl „in der Welt verankert“, was sich aus der Gesetzmäßigkeit von Entropie ableitet. Bei Lebewesen geht es um den permanent lebenserhaltenden Ausgleich der Energiebilanz durch Aufnahme von Nahrung mit geringer Entropie und deren Zunahme durch Stoffwechsel. Dieser Umwandlungprozess entsprecht doch ganz klar einem essentiell unabdingbar natürlichen Ordnungsprinzip. Insoweit kann Natur auch als Muster, resp. Vorbild für gesellschaftliche Ordungsprinzipien dienen. 

Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl




MfG,

Der, wie immer, Ratlose.

P.S:. Ich hoffe, ihr seid alle gut ins neue Jahr gekommen und wünsche euch alles Gute.
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