Am 20.04.2024 um 00:21 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Da ich dem Konstruktivismus an sich schon nichts abgewinnen kann, habe ich mit Sozialkonstruktivismus (als einem obendrein noch nicht wissenschaftlich etablierten Begriff) schon gar „nichts am Hut“.


Moin Karl, 

Sozialforschende sehen das anders, begann doch der Sozialkonstruktivismus 1966 mit Berger, P. und Luckmann, T.: "The Sodal Construction of Reality“, 1966 (Deutsche Ausgabe: „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", 1970). Ich las das Buch damals gemeinsam mit Soziologie-Studentinnen. 1968 erschien dann „Erkenntnis und Interesse“, in dem Habermas die empirisch-analytischen von den historisch-hermeneutischen Wissenschaften trennte und einer kritischen Wissenschaft das Wort redete (die er 1981 mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ vorlegte). Ebenso in Mode war das Buch „Erklären und Verstehen“, 1974 als Übersetzung von "Explanation and Understanding“ erschienen, das von Wright 1971 veröffentlicht hatte.

Wer meinen Beitrag genau liest, sollte eigentlich erkennen, um was es mir dabei geht: Definitiv nicht um eine wissenschaftlich methodische Begründung, wie menschliche Wahrnehmung funktioniert, sondern schlichtweg um die Tatsache, dass diese sich zunächst durchaus als ein subjektives Konstrukt im Gehirn entwickelt, dieses sich aber in der Summe kollektiver Konstrukte zu einem objektiven Gesamtbild relativiert und damit objektiviert. Davon ausgenommen sind natürlich subjektiv pathogene Formen von Perzeption, wie Wahnvorstellungen etc., die niemals in ein gesellschaftliches Kollektiv Eingang finden.

Das hier solchermaßen Beschriebene kann man nun in Verbindung mit methodischem Konstruktivismus oder Sozialkonstruktivismus bringen, je nach diesbezüglich vorgenommener Perspektive. Doch das war nicht mein Thema, vielmehr der Denkansatz, dass menschliche Perzeption tatsächlich auf gehirnlicher Konstruktion beruht, bei der es sich (bei mentaler Gesundheit eines Menschen) aber nicht um ein irreales Gehirngespinst handelt, sondern um ein durch hinreichende Inferenz geformtes Bild der wahrgenommenen Gegenständlichkeit, das i.A. durch kollektive Wahrnehmung und entsprechender Inferenz zu einer allgemeingültigen Aussage führt.


Auch wenn es nicht Dein Thema gewesen sein mag, hattest Du den Erlanger Konstruktivismus ausdrücklich erwähnt. Und der passt natürlich weder zur Hirnforschung noch zum Kognitivismus. Im Gegensatz zu den Radikal- oder Sozialkonstruktivsten ist das Konstruieren für die meth. Konstr. ebenso wie für die Ingenieure nicht nur Metapher. Und auch Du schreibst metaphorisch von „gehirnlicher Konstruktion“. Das Gehirn aber konstruiert nichts, es funktioniert physiologisch selbstorganisiert.  

Der meth. Konstr. ist den Fachwissenschaften vor- und nicht nachgeordnet wie Radikal- oder Sozialkonstruktivmus; denn „die wahren Sätze der Protophysik sind solche Sätze, die auf der Basis von Logik, Arithmetik und Analysis, Definitionen und den idealen Normen, die Messen ermöglichen, verteidigbar sind.“ Meth. Konstr. hatten 1974 die Streitschrift „Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik“ veröffentlicht, die aber kaum Nachhall unter Naturwiss. fand. 

Ich denke nach wie vor über so etwas wie eine kritische Wissenschaft nach; denn die kritischen Theoretiker sind mir methodisch zu vage geblieben, während die meth. Konstr. sich nicht weit genug in die Naturwiss. vorgewagt haben. Die Bohm'sche Mechanik als statistische Mechanik der QM  (Detlef Dürr) oder "Quantum Potential Theory" (Schürmann, Franz (Editors)) mag ihren Ansprüchen genügen, die QFT aber ist ihnen Baustelle geblieben. 

Aus dem „Physik Journal" 15 (2016) habe ich gerade einen vergessenen Artikel von Meinard Kuhlmann wieder entdeckt, in dem es um die Ontologie der QFT geht: „Sein oder Nichtsein? Felder, Teilchen, Tropen — die Quantenfeldtheorie im Dialog zwischen Philosophie und Physik.“ Über einen „Strukturrealismus" jenseits der Felder und Teilchen hatten wir uns ja schon wiederholt ausgetauscht, über „Tropen" meiner Erinnerung nach noch nicht. Bei Anna-Sofia Maurin heißt es in "Tropes: For and Against“ einleitend: "Trope theory is the view that the world consists (wholly or partly) of particular qualities, or tropes.“ Vgl. dazu die Stanford Encyclopedia: 

https://plato.stanford.edu/entries/tropes/

Kuhlmann knüpft daran an, wenn er schreibt: „Während Vertreter des Ontischen Strukturenrealismus Strukturen bzw. Relationen als das Fundamentale ansehen, sind die fundamentalen Entitäten nach der so genannten Tropenontologie Ei­genschaften, und zwar im Sinne von „Tropen”. Dabei handelt es sich um eine eigenständige ontologische Kategorie, nämlich die einzelnen Vorkommnisse von Eigenschaften. … Da sich die Vorstellung, Eigenschaften seien nicht Uni­versalien, sondern Einzeldinge, stark von der traditi­onellen Auffassung unterscheidet, haben Philosophen für eine partikularisierte Eigenschaft den neuen Aus­druck „Trope“ eingeführt. … Eigenschaften sind danach konkrete Einzeldinge oder „Partikularien“, und was wir gewöhnlich ein Ding nennen, ist ein Bündel von Eigenschaften.“ 

Mir scheinen die Tropenbündel an die Elemente Machs anzuknüpfen. Wie kommen aber diese Qualitäten mit den Quantitäten der Physik zusammen? D.h. „wie können wir unterscheiden, welche Eigen­schaften für die Identität eines Dinges essenziell sind und welche sich ändern können?“ Bekanntlich schlug Wigner bereits 1939 vor, „die gruppentheoretische Analyse von Symmetrien zu ver­wenden, um herauszufinden, welche Eigenschaften ein elementares System (wie etwa ein Elementarteilchen) charakterisieren.“ Im Strukturrealismus ergeben die gruppentheoretischen Invarianten nur Klassen von Teilchen und keine einzelnen Teilchen. „Die Tropenontologie dagegen zeigt uns, wie wir mit dieser Einsicht zu einzelnen Teilchen kommen können.“ 

Damit scheint mir auch in der QFT eine Synthese von Idealismus und Realismus gelungen zu sein wie sie Lorenzen bereits in der Protophysik durch methodisches Abstrahieren und Ideieren vorgemacht hat. Im Detail wird aber noch einiges zu bedenken sein. 

IT