Am 12. Juli 2024 23:47:19 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb" <philweb@lists.philo.at>:
Nur noch mal kurz hierzu:
CZ: "Dass man jede Strecke unendlich oft teilen kann, bedeutet nicht, dass unendlich viele Schritte nötig sind, sie zurückzulegen."
Das stimmt, das "bedeutet" es nicht. Aber das wird ja auch nicht behauptet, daß es das "bedeutet". Was "bedeutet" es dann? (und man wird sich genau überlegen müssen, was "bedeutet" hier "bedeutet" - meaning of meaning...)
Unendliche Teilbarkeit "bedeutet" doch offenbar, daß Beschreibungsformen möglich sind wie diese (ich versuche eine neuerliche Umformulierung, ganz ohne Wikipedia und ChatGPT, sorry dafür):
Der Pfeil (oder Achilles, egal) erreicht nie sein Ziel s zur Zeit t, weil wenn er das tun würde, müßte gelten: er erreicht vorher zur Zeit t/2 den Streckenpunkt s/2. Aber wenn er diesen Punkt erreicht müßte ja auch gelten: er erreicht vorher s/4 zur Zeit s/4. Aber dann müßte er ja vorher... usw. usw. Es gibt zeitlich-räumlich immer einen Punkt "davor", der nicht erreicht wird, weil er ja vorher einen Punkt davor hätte... usw. bis ins Unendliche. Jeder dieser Sätze über das Verhältnis von Zeit und Raum und Bewegung ist doch per se "wahr" (im normalen Newton-Universum, ohne irgendwelche Einstein-Krümmungs-Spielchen...). Oder? Und doch scheint uns die Schlußfolgerung aus diesen wahren Sätzen falsch.
Daher würde ich bzw Kollege Zenon gegen deinen Satz sagen: "Daß man jede Strecke unendlich oft teilen kann, *bedeutet* (unabhängig davon, was es sonst alles NICHT "bedeutet"), daß Bewegung nicht mehr erklärbar ist".
Aber wenn ihr darüber schon (zu lange) diskutiert habt, können wir das gerne auch damit bewenden lassen.
J. Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>
Gesendet: Freitag, 12. Juli 2024 17:44
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Betreff: [PhilWeb] Re: Der Tod der Wahrheit (hjn)
Am 12. Juli 2024 08:49:07 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb" <philweb@lists.philo.at>:
CZ: „Das klingt doch schon nicht mehr so, als ob man von ihnen wehrlos über den Tisch gezogen würde. Oder mit gleicher Kraft in entgegengesetzte Richtungen, so dass die Kräfte sich in ihrem Objekt neutralisieren.
Aber es könnte Fälle geben, in denen man nicht weiss, was man will.“
Aber Buridan spricht ja deswegen von einem Esel, weil er erstmal nicht von „Motiven“ (also von Menschen und ihrer angeblich so rationalen Selbstbestimmung) sprechen will, sondern von einem kausal-deterministischen System, das vorhersehbar-eindeutig auf Reize reagiert (also in diesem Sinne „wehrlos“ ist). Es sieht Heu, also läuft es darauf hin, frißt es. Nur eben: was passiert, wenn es zwei gleich distante sieht (usw.).?
Ob diese Situation auf Menschen und ihren Umgang mit „Motiven“ übertragbar ist, ist dann eine andere Frage, und die daran anschließende wäre, was dann beim Menschen eigentlich „anders“ ist, was wir tun, um nicht zu solchen Eseln zu werden, usw. Und die Vermutung ist: uns „rettet“ vor diesen Situationen nicht etwa eine höherstufige Intelligenz, sondern die immer schon vorausliegende Kontingenz der Welt: die pure („stochastische“?) Unwahrscheinlichkeit, je in eine solche Lage des perfekten Entscheidungsequilibriums zu kommen, das, wenn es es gäbe, in der Tat auch für uns Fast-Esel „tödlich“ wäre.
Zu Zenon:
CZ: „Der Haken an dieser Methode ist doch, dass man sich bei jedem
Schritt verbietet, bei B anzukommen. Dann sollte man sich über das Ergebnis auch nicht wundern. Endlose Teilungsmöglichkeit bedeutet nicht unendlich viele notwendige Schritte. In einem Schritt, zwei oder drei oder jeder bestimmten Anzahl von Schritten wäre es ja kein Problem.“ Aber das heißt ja nur: es gibt andere Beschreibungsformen, die NICHT zu einem Paradox führen, sondern das Phänomen erwartbar commonsense-konform beschreiben.
Aber Zenon stellt die Frage: was ist denn bitte an meiner Beschreibungsform falsch? Denn man KANN Bewegung doch widerspruchsfrei so beschreiben: um eine Strecke s zu bewältigen, muß erst die Hälfte der Strecke bewältigt sein. Um die Hälfte der Strecke zu bewältigen… usw.
JL
Es ist nichts dalsch daran, sich so auf einen Punkt zuzubewegen, wenn man gar nicht vorhat, ihn zu erreichen, sondern sich ihm nur immer weiter anzunähern. Jetzt müsste eigentlich ein wh auf den Plan treten und sagen: Kann man so machen, aber bei der Plancklänge ist Feierabend.
Ich glaube, das hängt mit dem hier in deiner Abwesenheit besprochenen Unterschied zwischen potentieller und tatsächlicher Unendlichkeit (hier: unendlicher Teilbarkeit) zusammen.
Kann man sich ein unendlich grosses Zimmer vorstellen? Nicht wenn ein Zimmer ohne Grenzen/Wände keins wäre. Hier versteht man unter Raum ein bestimmtes räumliches Gebilde.
Kann man sich ein Ende jeder Bewegungsmöglichkeit vorstellen? Man kann natürlich irgendwo nicht mehr weiterkommen. Aber vorstellen kann man es sich natürlich, wenn man einen "Raumsinn" hat. Hier wird unter Raum ungefähr Bewegungsmöglichkeit verstanden.
Dass man jede Strecke unendlich oft teilen kann, bedeutet nicht, dass unendlich viele Schritte nötig sind, sie zurückzulegen.
Claus
Von: Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>
Gesendet: Freitag, 12. Juli 2024 00:12
An: philweb <philweb@lists.philo.at>
Cc: Claus Zimmermann <mail@clauszimmermann.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Der Tod der Wahrheit (hjn)
Am 11. Juli 2024 22:44:57 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb" <philweb@lists.philo.at<
mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Lieber Claus,
wieso willst du die Einschränkung machen „nur im Sinn von ‚sprachlich verboten‘“? Ich hätte gesagt: wenn das „Tauziehen“ eines von gleich starken Motiven ist, zwischen denen auf rationale Weise entschieden werden muß (und Rationalität kommt ja gerade dann ins Spiel, wenn es keine emotionalen Neigungspräferenzen gibt: der Esel ist ja nie schlauer/logischer/intelligenter als genau dann, wenn er sich ganz präzise überlegt, welchen Heuhaufen von den beiden identischen er jetzt fressen soll!), dann folgt zwingend Indezision, Unbeweglichkeit, Stillstand. Oder mit dem Saugroboter: solange das eine kybernetisch „triviale Maschine“ ist (wie mein billiges Ding), bleibt sie stecken. Und logische Schlüsse SIND „trivial“, weil sie ungeschichtlich sind, also: nicht lernen (nicht auf „Fluktuationen“ regieren, mit Ingo).
Man kann in Kenntnis der Motivlage eines Menschen zwar oft mit an Sicherheit grenzender aber eben nur daran grenzender Wahrscheinlichkeit vermuten, was er tun wird, aber woher soll man es ohne prophetische Fähigkeiten wissen? Die Handlung ist nicht schon in den Umständen enthalten, so wie der Schluss in den Voraussetzungen und Umformungsregeln. Oder?
Nun könnte man aber auf die Idee kommen, dass man doch immer und prinzipiell ausnahmslos dem stärksten Motiv folgt, wenn man als stärkstes Motiv dasjenige bezeichnet, dem man gefolgt ist. Aber wäre das nicht nur ein missverstandener analytischer Satz, eine Worterläuterung im Ton einer Tatsachenfeststellung? Die Handlung zeigt, wie die Motive priorisiert wurden. Das klingt doch schon nicht mehr so, als ob man von ihnen wehrlos über den Tisch gezogen würde. Oder mit gleicher Kraft in entgegengesetzte Richtungen, so dass die Kräfte sich in ihrem Objekt neutralisieren.
Aber es könnte Fälle geben, in denen man nicht weiss, was man will.
Außerdem aber: ich glaube nicht, daß man das Zenon-Paradox dadurch aus der Welt kriegt, daß man sagt, die Strecke darf nicht halbiert werden.
Der Witz scheint mir doch zu sein: ich kann folgende „wahren“ Sätze formulieren:
1) Bevor der Pfeil von Punkt A nach Punkt B kommt, muß er die Hälfte der Strecke überwinden.
2) Wenn er die Hälfte der Strecke überwunden hat, fehlt ihm noch eine Hälfte. Er ist also noch nicht am Ziel angekommen.
3) Bevor der die Hälfte der Strecke zurückgelegt hat, muß er das Viertel der Strecke überwinden.
4) Wenn er das Vierteil überwunden hat, fehlt ihm noch ein Viertel zur Hälfte. Er ist also noch nicht bei der Hälfte angekommen.
usw. usw. in Zweierpotenzen…
Also: er bewegt sich gar nicht.
Die Frage ist: in welchem Satz/Ausdruck/Beschreibungsmodus steckt der Fehler?
Der Haken an dieser Methode ist doch, dass man sich bei jedem Schritt verbietet, bei B anzukommen. Dann sollte man sich über das Ergebnis auch nicht wundern. Endlose Teilungsmöglichkeit bedeutet nicht unendlich viele notwendige Schritte. In einem Schritt, zwei oder drei oder jeder bestimmten Anzahl von Schritten wäre es ja kein Problem.
(Und ich hatte tatsächlich ernsthaft gefragt, wie wir zu Buridan
gekommen waren, weil ich es nicht mehr wußte. Hier wird doch nichts
„bis ins Grab nachgetragen“, warum so aggressiv?)
Also hörmal, habe ich vielleicht ernsthaft angenommen, dass du mir Verunglimpfung unterstellen würdest?
Ciao
Joachim
Von: Claus Zimmermann über PhilWeb
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Gesendet: Donnerstag, 11. Juli 2024 21:12
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Cc: Claus Zimmermann
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mailto:mail@clauszimmermann.de>>
Betreff: [PhilWeb] Re: Der Tod der Wahrheit (hjn)
Stimmt schon, die näherliegende Analogie zu Buridans Esel ist wohl die zu einem inneren Tauziehen, bei dem es zu einem Gleichgewicht der Kräfte kommt. Ich hatte das Verhältnis von logischer Voraussetzung und Schluss ins Spiel gebracht, weil sich der Schluss bei korrekter Anwendung der Regeln wirklich zwingend aus der Voraussetzung ergibt oder besser gesagt schon in ihr enthalten ist. Was bri einem Tauziehen herauskommt, kann man dagegen nicht vorher wissen. Das eine ist ergebnisoffen und tatsächlich empirisch, das andere nicht.
Aber wie gesagt haben Motive natürlich etwas mit unseren Handlungen, zu tun, sonst wären sie ja keine. Dass eine konkrete physikalische Ursache etwas mit einer bestimmten Wirkung zu tun hat, kann man ihr dagegen nicht ansehen, sondern erkennt es durch Beobachtung am regelmässigen Aufeinanderfolgen (z.B. bei klinischen Studien der Wirksamkeit und Unschädlichkeit von Medikamenten) - regelmässig aber nicht im Sinn einer Vorschrift wie in der Logik.
Widerstreitende Motive kann man unter diesen Vorbehalten mit einem inneren Tauziehen vergleichen. Wie beurteilt man dann, welches Motiv das stärkste war?
Nach Grösse und Entfernung der Heuhaufen? Dann ist es sehr wohl eine empirische Frage, wie sich der Esel verhalten wird.
Oder danach, was er tut? So drücken wir uns tatsächlich aus: das ausschlaggebende Motiv nennen wir das stärkste. Bei Buridans Esel wäre es die Selbsterhaltung. Und wenn jemand, zwischen zwei Motiven hin- und hergerissen, gar nichts tut (was man sich in einem weniger konstruierten Beispiel vorstellen könnte, wenn er sich damit nicht selbst gefährden würde), würden wir von gleich starken Motiven reden. Dann wäre es allerdings ausgeschlossen, wenn auch nur im Sinn von "sprachlich verboten", dass er sich bei gleich starken widerstreitenden Motiven bewegen würde.
Immerhin können wir uns im Gegensatz zu einem blossen Naturgeschehen etwas vornehmen und uns in Grenzen selbst steuern.
Wie waren wir darauf gekommen? Du hattest beanstandet, dass IT Glauben auf eine Veranlagung zurückgeführt hatte und das für eine Erklärung hielt.
Ich hatte mich doch schon dafür entschuldigt, auf den Beitrag nur teilweise eingegangen zu sein, weiss aber natürlich, dass einem sowas hier bis ins Grab nachgetragen wird.
Zu Zenos Paradoxon hatte jemand, ich glaube der Kollege RF, mal geschrieben:
Das Paradox ergibt sich im Wesentlichen aus der Teilbarkeit einer
Strecke. Wenn der Pfeil die hälfte der Strecke zurückgelegt hat, dann
hat er die andere Hälfte noch vor sich. Wenn er aber die Hälfte
dieser Strecke zurücklegt, dann bleibt ihn wieder eine Hälfte und so weiter.
Weil man immer kleiner teilen kann, so die Idee, kann er sein Ziel
eigentlich niemals erreichen.
Ich hatte mir später dazu notiert:
Wenn man die zweite Hälfte immer nur halbiert, statt sie komplett zurückzulegen - wie soll man denn da jemals ankommen?
Ich kann darin nichts paradoxes finden. Das Gegenteil wäre es.
Claus
Am 11. Juli 2024 09:04:44 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb" <philweb@lists.philo.at<
mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Zu Buridans Esel vielleicht noch: ich hab den Status dieses Gedankenexperiments immer analog zu Zenons Paradoxien verstanden. Natürlich wird der gute alte common sense immer sagen: Achilles überholt die Schildkröte sofort, aber wenn man fragt warum, wie muß ich das begrifflich beschreiben, was ist genau falsch an den Begriffen, mit denen ich „beweisen“ kann, daß er sie nie überholt, das ist dann ja vielleicht doch eine (philosophische) Herausforderung. Beim Esel wird man sich dann eben vorstellen müssen, daß er tatsächlich ganz genau in der Mitte zwischen zwei exakt identischen „Attraktoren“ steht (es gibt doch bestimmte physikalisch Gegenstände, die man gleichermaßen in einem gut austarierten magnetischen Kraftfeld „schweben“ lassen kann, oder?), und dann wird man in der Tat sagen müssen: wenn es wirklich keinerlei Veranlassung für eine Präferenz gibt (bzw. wenn jede etwaige Präferenz sofort annulliert wird durch die identisch-konträre Gegen-Präferenz), dann verhungert der Esel. Er ist zur absoluten Stasis verdammt, er weiß nicht, was er tun soll, also kann er auch nichts tun, und wird nichts tun.
Das hat mit experimenteller Überprüfung und Empirie nichts zu tun, weil natürlich ein solcher absoluter Gleichgewichtszustand nicht herzustellen ist (der ist nur „denkbar“), und weil natürlich gerade der Schluß schon wegen der Energie-Entropie nicht stimmt: ein „verhungernder“ Esel wird per Eigengewicht aus dem Balance-Zustand fallen, d.h. er wird dadurch einem der beiden Heuhaufen näher kommen als dem anderen, und sofort wieder „wissen“, was (und daß) er fressen muß… Aber im perfekten Gleichgewichtszustand ist er „gelähmt“.
Und vielleicht ist das ein Sinnbild für alle „Entscheidungen“: die fallen nie durch genaues Abwägen zwischen wirklich exakt austarierten, identisch und balanciert zu wertenden Alternativen, sondern sie „fallen“ eben, weil man IN sie „fällt“, nur durch Übermüdung, Energieverlust, Zufall. Das stabile Magnetfeld des Ja/Nein-Gleichgewichts läßt uns plötzlich irgendwann los und wir taumeln halt in eine der beiden Richtungen (und sagen dann großmäulig, wir „hätten entschieden“…).
Aber wofür war das jetzt nochmal ein Argument?
J. Landkammer
Von: Claus Zimmermann über PhilWeb
<philweb@lists.philo.at<
mailto:philweb@lists.philo.at>>
Gesendet: Mittwoch, 10. Juli 2024 03:32
An: philweb <philweb@lists.philo.at<
mailto:philweb@lists.philo.at>>
Cc: Claus Zimmermann
<mail@clauszimmermann.de<
mailto:mail@clauszimmermann.de>>
Betreff: [PhilWeb] Re: Der Tod der Wahrheit (hjn)
Am 9. Juli 2024 18:17:26 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb" <philweb@lists.philo.at<
mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Lieber Herr Tessmann,
darf ich zunächst mal rein „philologisch“ etwas pingelig sein/werden? Irgendwas stimmt mit dem englischen Zitat nicht, der Satz, der mit „To distinguish“ beginnt, funktioniert grammatikalisch doch nicht ganz, oder? Ich hab das bißchen recherchiert, finde aber bis jetzt nur, daß der Text offenbar aus Justin L. Barretts Aufsatz „Exploring Religion`s Basement: The Cognitive Sciene of Religion“ stammt, den man (u.a.?) im „Handbook of the Psychology of Religion and Spirituality“, und zwar leider in dessen ZWEITER Auflage (ich finde nur die erste von 2006, in der der Aufsatz nicht drin ist) von 2013. Dort aber (und ich habe nur eine blöde Google-Books-Vorschau) geht dieser Satz aber etwas anders weiter, v.a.: Barrett nennt dort seine HADD-Benennung selbst „clumsy“ (plump, unbeholfen, ungeschickt, tollpatschig), was ja diese Experten-Fachsprachen-Aura, mit der Sie diese Kategorien hier präsentieren, etwas relativieren dürfte.
Mich würde jedenfalls zunächst der Originaltext in vollständiger und
richtiger Gestalt von Barrett interessieren, haben Sie da ein pdf
oder was frei Herunterladbares für mich? Davon unabhängig (und
vielleicht daher etwas voreilig) würde ich allerdings vermuten, daß
Religionspsychologie uns hier (wie bei anderen genuin
„philosophischen“ Problemen, Sie kennen die Geschichte des
philosophischen Psychologie-Bashings spätestens seit Husserl) kaum
weiterhilft, weil sie ja immer dazu tendiert, zu jeder menschlichen
Handlungs- und Verhaltensweise flugs ein entsprechendes Syndrom, eine
Tendenz, eine menschlich/allzumenschliche Neigung auszumachen, und
damit die Sache für „erklärt“ zu erklären: für die Liebe gibt’s die
Libido, für den Haß den Todestrieb, für Diebstahl und Neid das
Besitzsyndrom, für das Niesen den Niesreiz, für jede optische
Täuschung die entsprechenden „Eigen“-Aktivitäten des Auges, das sich
zurecht“sieht“, was gar nicht da ist. Und jetzt eben auch eine
„Agency Detection Device“ für die Annahme übernatürlicher
Einwirkungen. Alles sehr schön – nur: so what? Welchen Status haben
solche Erklärungen? Was „erklären“ sie wirklich? Haben sie nicht
genau zuallererst die pseudo-epistemologische Funktion, die Sie am
Ende selbst andeuten, wenn Sie rhetorisch fragen: „können wir es
nicht dabei belassen“? Genau darum scheint es tatsächlich zu gehen:
wir haben ein „Device“ identifiziert, hervorragend, fertig, dabei
„belassen“ wir es jetzt. Psychologismen sind eben, hier wie anderswo,
nichts anders als pseudo-erklärende Stop-Argumente, reduktionistische
Schubladen-Verschließ-Einfälle: rein damit mit der Frage, und
zumachen. Nächstes Problem her, nächstes Paper für die „Psychological
Experimental Research Review“ fertigmachen…
Zum Nutzen und den Grenzen psychologischer Handlungserklärungen fällt mir folgendes ein:
Natürlich kann man die Handlungen eines Menschen nicht verstehen, ohne seine Situation zu kennen. Soweit es sich um seine seelische Verfassung handelt (Wünsche, Vorlieben, Abneigungen etc.) ist die Psychologie zuständig und kann durchaus einen Beitrag zum Verständnis der Handlungen leisten.
Aber bedeutet das, dass wir die Handlung kennen, wenn wir die seelische Verfassung kennen (und die äussere Situation auch), weil erstere in letzterem schon enthalten ist?
Nehmen wir Buridans Esel: zwei genau gleiche Heuhaufen in genau gleicher Entfernung und das arme Tier muss verhungern, so die theoretische Annahme.
Das könnte man ja im Experiment überprüfen und ich würde wetten, dass kein Esel in dieser Situation verhungern und kein Mensch in ihr je verdursten würde.
Der Grund der Annahme ist meiner Meinung nach die Verwechslung psychologischer Motive mit logischen Voraussetzungen. Der Schluss ist mit den Voraussetzungen und Umformungsregeln ja tatsächlich gegeben und es gibt keine Ausnahmen, sondern nur Fehler.
Jetzt habe ich mich nur mit einem Aspekt des Beitrags beschäftigt und war damit schon ausgelastet.
mit besten Grüssen an den verlorenen PhilWeb-Sohn (ein bisschen
Bibelanspielung passt ja zum Thema)
Claus
Wenn der feine Herr gesiezt werden will, machen wir das auch.
Die armen Philosophen aber, die keine solchen Schubladen (und keine solchen Paper-verschlingende Fachzeitschriften) haben und die es mit ihrer verbohrten Sturheit eben „dabei nicht belassen“ wollen, bestehen bockig darauf, daß mit all diesen angeblichen, experimentalpsychologisch so wunderbar „aufgedeckten“ und „nachgewiesenen“ menschlichen Wahrnehmungs/Denk/Spekulier-Leistungen ja die Frage nach deren WAHRHEIT nicht „geklärt“ ist, die Frage nach dem „Wesen“ von (etwa) Liebe, Haß, Tod, Besitz, Wirklichkeit und „Mehr-als-Wirklichkeit“. Mit dem Versuch eines (ebenfalls very clumsy) Gleichnisses: natürlich „tendieren“ wir dazu, uns Bilder zu machen, auch dort, wo es gar keine gibt, also z.B. sah man einstmals ein erkennbares Gesicht auf dem Mond. Man konnte von einem Mann im Mond reden, weil man ihn „sah“. Und da konnten die Psychologen nun lange darüber reden, daß das nur eine allzumenschliche anthropomorphe Einbildung ist, tatsächlich nicht mehr daran geglaubt hat man trotzdem erst, als man eben hingefahren ist und gesehen hat: da ist ja tatsächlich niemand, nur Krater und Geröll. Erst dann, erst mit diesem (negativen) Faktizitäts-Beweis, wird die Illusion wirklich dementiert, völlig unabhängig davon, wie wissenschaftlich-exakt man ihr Zustandekommen erklärt hat. Und beim Gottesglauben steht eben diese endgültige Widerlegung noch aus: wir haben eben noch nicht „überall nachgesehen“ (und können das vielleicht ja auch nicht), darum wird dieser Glaube von all diesen psychologischen Erklärungen seiner Existenz überhaupt nicht tangiert. Es geht um die Existenz Gottes, nicht die des Gottesglaubens.
Aber wie gesagt: gern les ich mir auch erst mal diesen
Religionspsychologen-Aufsatz durch… J. Landkammer
Von: Ingo Tessmann über PhilWeb
<philweb@lists.philo.at<
mailto:philweb@lists.philo.at>>
Gesendet: Dienstag, 9. Juli 2024 10:10
An: philweb <philweb@lists.philo.at<
mailto:philweb@lists.philo.at>>
Cc: Ingo Tessmann
<tessmann@tu-harburg.de<
mailto:tessmann@tu-harburg.de>>
Betreff: [PhilWeb] Re: Der Tod der Wahrheit (hjn)
Moin Joachim,
gegen das „Wunderargument“ in der quantitativen Experimentalwissenschaft spricht der meth. Konstr., in dem die Formalismen und Experimente als mathematische bzw. technische Transformationen auf das menschliche Maß verstanden werden. Indem bspw. physikalische Theorien hinreichend invariant formuliert werden, gelten sie in weiten Skalenbereichen (Eichinvarianzen) und Bezugssystemen (relativistischen Invarianzen), auch hier gegenwärtig auf der Erde im Labor.
Der Wunderglaube mag Jahrtausende alt sein, verstanden aber wurde er
erst im Zuge von Evolutionstheorie und Kognitionsforschung als
"Hypersensitive Agency Detection Device" (HADD), auf die ich am
21.5.24 hinwies: "The special cultural elaborations that we call
‘religion’ are the upshot of an ordinary, pan-human
information-processing tendency that can be seen in many different
domains of cultural expression. To distinguish this tendency to find
intentional agency around us from other treatments of
‘anthropomorphism’ and to remain neutral with regard to whether the
bias is best characterized as a tendency to pick out human-like
agency or intentional agency generally, Barrett dubbed the cognitive
system responsible for detection intentional agency the
Hypersensitive Agency Detection Device.“
Dabei unterläuft die Selbststabilisierung zwischen HADD und IREM
(Interactive Religious Experience Model) die logische Zirkularität;
denn "instead of saying that agency-intuitions are major causes of
religious belief in general, IREM says that general belief in
supernatural agents causes people to seek situations that trigger
agency-intuitions and other experiences.“
Im SciLog
https://scilogs.spektrum.de/die-sankore-schriften/hyperactive-agency-detection-device-hadd/