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Am 01.02.2025 um 20:18 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:




Dieser Zaubertrick würde einen Rotblinden aber wohl kaum rotsehend machen, Waldemar. Man sieht die Farbe eindeutig oder weiss nicht, wovon die Rede ist und wie andere in der Lage sind, zu unterscheiden, wo man selbst keinen Unterschied sieht. Deshalb kommt es mir irreführend vor, hier statt von "Eigenschaft" von "Eigenschaftssumme" zu reden. Denn eine Summe kann man durch die andere Seite der Gleichung ersetzen, wenn deren Glieder bekannt sind.

Eine Melodie oder ein Gesicht (als Beispiel und Ausdruck des Lebendigen) sind vielleicht nicht so eindeutig zu identifizieren wie eine Farbe oder ein Geschmack. Man könnte auch sagen, dass man beides im Gegensatz zur Farbe sehr wohl beschreiben kann. Aber was man beschreiben kann, ist z.B. die Tonfolge. Die kann man kennen, ohne eine Ahnung von der Melodie zu haben. Die Melodie ist zwar mehrgliedrig, aber eine Einheit und deshalb unvergleichlich leichter zu merken als eine Folge unzusammenhängender Töne.



Ein sehr eingängiges Beispiel für ganzheitliche Wahrnehmung der Lebenswelt, wie ich finde. 

Was Waldemar schreibt, mag alltagspraktisch oftmals zutreffen, doch der Farbenreichtum mit all seinen Schattierungen in Natur und Kultur umfasst ein weitaus breiteres Spektrum, das eben niemals nur durch die Reduktion auf die jeweilige Grundfarbe ausgedrückt werden kann. 

Farben repräsentieren Emotionen, gleichermaßen, ob man sie in der Natur, in einem Gemälde, an bunten Häusern, Gegenständen aller Art zu sehen bekommt und entsprechende Wirkung, resp. Empfindungen auslösen. Ausser bei den bedauernswerten farbenblinden Menschen kann ich mir nicht vorstellen, dass Farbe keinen Einfluss auf die Psyche von Menschen (wie auch von Tieren) hat. Alleine der Erfolge von Farbentherapie sprechen vom essentiell wirksamen Einfluss von Farben.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Musik, somit den Melodien. Musik gehört zu meinem engsten Lebensumfeld und wenn ich im Chor singe, oder eine Melodie auf der Geige spiele, gelingt das eigentlich nur ganzheitlich und zwar exakt so, wie die Komposition eines Stückes angelegt ist. Wenn ich beim Lernen eines für mich neuen Musikstücks oder Liedes zur ersten Orientierung Noten auf dem Klavier spiele, hat das noch nichts mit der Geschlossenheit eines Satzes zu tun, sondern ist ein fragmentarisches Herantasten an eben dessen Ganzheit.

Nun hattest Du, Waldemar, hier ja geschrieben, mit Gesang und Musik (aktiv) schon zu Schulzeiten gequält worden zu sein, insofern wird Dir mein Beispiel nichts sagen. Ich werde auch gar keines finden, um Dir das Geheimnis von Emergenz nahezubringen, denn jedes Dir als ein Ganzes aufscheinende zerlegst Du in ihre kleinsten Teile, eben Deine „Hammelkörnchen“. Und wer wollte bestreiten, dass alles Materielle in Welt und Kosmos darauf basiert: Sternenstaub. 

Die entscheidende Frage ergibt sich zwangsläufig: Welcher koevolutionäre Mechanismus steht für das unzweifelhaft erkennbare emergente Schöpfungs-Geschehen, das weit über eine plumpe, geistlose - auf pur materielle Eigenschaftensummen reduzierte Biogenese hinausreicht?

Der Unterschied zwischen Reduktionismus und Konstruktivismus scheint sich unter diesem Gesichtspunkt aufzulösen, beide Sichtweisen kommen an ihre Grenzen, eben genau dort, wo ganzheitliche Lebenswirklichkeit herrscht.


KJ