Hi Ingo

meine (zugebenermaßen noch nicht recht ausgegorene, also: durch Zeit noch nicht „gereifte“) Idee war ja gerade, daß man vielleicht nicht so einfach neben die „Innensicht“ die „Außensicht“ stellen kann und sollte (du sagst einfach: „es gibt auch die Außensicht“, aber die phil. Frage wäre ja: wieso und mit welcher Berechtigung? wirkungsmächtige phil. Strömungen des 20. Jahrhunderts behaupten nicht nur einen „Primat“ der Innensicht, sondern halten jede Außensicht für nur „abgeleitet“, verfremdet und nicht authentisch…). Natürlich kann man der Innen- und Eigenzeit immer eine rein mathematisch konstruierte physikalische Zeit entgegenhalten und sich an ihr „orientieren“, aber das könnte ja ähnlich „lebensfern“ sein wie andere physikalisch-mathematische „Gegenwelten“ auch: wenn mir etwa jemand erklärt, daß aufgrund von statistischen Berechnungen Fliegen 137,83 mal „sicherer“ ist als Autofahren, werde ich trotzdem nicht in ein Flugzeug steigen; und wenn mir jemand mit der Stop-Uhr in der Hand nachweist, daß ich zum Lesen von 1000 Wörtern von Thomas Mann 5 Minuten 34 Sekunden länger gebraucht habe als zum Lesen von 1000 Wörtern von Hegel, werde ich trotzdem sagen, Mann habe ich „schneller“ gelesen, usw. Das subjektive Zeitempfinden ist einfach durch die objektive Zeit „der anderen“ nicht einholbar, nicht darstellbar; und Robinson begibt sich bekanntlich sofort wieder in einen „sozialen Käfig“, wenn er kaum angekommen auf seiner Insel, wo ihm endlich mal alles egal sein könnte, auf Baumrinden einen Kalender einritzt und die Tage (=Sonnenuntergänge) zählt. Aber warum? Man würde doch sagen: aus internalisiertem Fremdkontroll-Wahn, wie fast alles, was wir so tun und denken (und man könnte/müßte natürlich dann auch über Kapitalismus und protestantischen Arbeitsethos reden, usw.). Eigentlich also alles überflüssig und falsch, zumindest für Robinson. Und wieso sollte so ein Robinson-Leben nicht ein plausibles „Ideal“ sein? (Annäherungen daran soll es ja angeblich in anderen „südlicheren“ Kultursphären als den unseren geben, wo „Pünktlichkeit“ und temporale Sozialkoordination keinen so hohen Stellenwert zu haben scheinen. Die Deutsche Bahn macht es uns ja schon vor, sie gewöhnt uns an solche „flexiblen“ Zeitvorstellungen…).

JL

(gerade im Zug, deswegen…)

 

Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>
Gesendet: Dienstag, 20. August 2024 18:18
An: philweb <philweb@lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann@tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?

 

 



Am 20.08.2024 um 12:52 schrieb Landkammer, Joachim über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

 

Aber auch die Sanduhr ist ja schon wieder eigentlich ein „kreisendes“ Symbol (wie der Uhrzeiger), weil sie durch ihre Form die Vorstellung hervorruft: man muß sie nur in der Mitte drehen, und der eben „weggelaufene“ Sand ist wieder „da“ und das Zeit-Spiel kann von vorn beginnen (die Sanduhr suggeriert, daß auch Gravitation aufheb- und umkehrbar ist, daß der Sand nie „verloren“ geht). Wirklich radikale Endlichkeitssymbole kennen wir vielleicht gar nicht – außer eben unser eigenes (nicht biologisches, sondern geistiges, bewußtes) Leben selbst, daß als „Realsymbol“ jene Unwiederbringlichkeit vorführt, der sonst die gesamte organische und physikalische Umwelt (bzw. unsere schönen wissenschaftlichen und metaphysischen Vorstellungen davon) zu widersprechen scheint (selbst die ökologische Bewußtmachung der Endlichkeit aller „Ressourcen“ droht ja nicht etwa mit einem radikalen Ende des Lebens auf der Erde, sondern „nur“ mit einer von keinem Menschen mehr bewohnten und bewohnbaren Erde, hat also im Grunde doch auch eine Art Ewigkeitsvorstellung, vgl. Bücher wie „After Man“ u.ä.). 
Deswegen könnte einem die Idee kommen: es gibt eigentlich nur EINE Zeit: meine.

 

Hi JL, 

 

Claus hatte schon darauf hingewiesen, dass es neben der Innen- noch die Außensicht gebe. Innenbezogen folge ich häufig einfach meinem Zeitgefühl, da ich seit wohl schon 50 Jahren keine Uhr mehr trage. Aber natürlich beziehe ich mich bei der Abschätzung von Dauern immer wieder auf die Uhrzeit, synchronisiere also ab und an mein Zeitgefühl mit der Uhrzeit. Ähnlich müssten unsere Vorfahren vorgegangen sein, als sie ihre Zeitgefühle bspw. mit der Schattenbewegung eines Baumes abstimmten. Für Einzelwesen mag es jeweils nur die eigene Zeit geben, aber Lebewesen kommen nicht als Einzelwesen vor. Insofern taugt Deine Idee nicht einmal als Ideal; wohl aber die von allen Menschen annäherbare Uhrzeit. 

 

Menschen begannen der Sonne und dem Mond folgend mit kreisenden Symbolen für die Uhrzeit. Die Ewigkeitsvorstellung der periodischen Zeit wurde bspw. durch die Endlichkeitsvorstellung des von den Nornen gesponnen Lebensfadens ergänzt. Heute könnte anstatt des fingierten Lebensfadens mit der Geburt eine Digitaluhr zum Zählen der Lebenssekunden gestartet und mit dem Tod wieder gestoppt werden. Neben der je eigenen und äußerlich unendlich fließenden Zeit hätten wir zudem viele endliche Stoppzeiten. Die gestoppten Zeitdauern wiederum beziehen sich nicht nur auf einzelne Menschen, sondern auch auf Kulturen und Zivilisationen, Sternen und Galaxien bis hin zur kosmischen Zeit. Der genaue Zusammenhang aller Zeiten im Universum harrt noch der Ausarbeitung. 

 

IT