Lieber Karl, liebe Alle,

wie beim Treppenwitz erst spät zum Thema Musik: eine erlebte Tonfolge wird als Inhalt erlebt, in dem jeder Augenblick eine Synthese aus Vergangenem und Vorweggenommen-Erwartetem in die jeweilige Gegenwart hinein ist. Das augenblickliche Ergebnis ist ein Fluss, ein sequentiell inhaltsbezogen ineinandergreifendes Zusammenhängen. Schlüssel für die entsprechende Zeitauffassung ist der Primat des Inhalts, auf den hin vergangener Inhalt aufgegriffen und von dem aus ein Ausgriff auf künftigen Inhalt erfolgt.

Die entsprechende Zeit ist nicht die pure Außenzeit, die als zunächst inhaltleer mit Beliebigem gefüllt werden kann, und der entsprechende Raum ist nicht der leere Raum aus Außensicht. Stattdessen ist es primär inhaltliche Zeit und primär inhaltlicher Raum, genannt semantische Zeit und semantischer Raum. In diesem gefüllten und aus seiner Fülle lebenden Zeitraum erzeugt die Konsekution eine „semantische Achse“, die das parallel und sequentiell Ganze, z. B. einer Melodie oder eines Gedichts oder einer Erzählung charakterisiert.

Das entsprechende Konzept einer semantischen Raumzeit haben wir in der Artikelserie zum weiterentwickelten Leib-Seele-Modell vorgestellt. Zu den Koautoren zählte auch der mittlerweile leider verstorbene Literaturwissenschaftler David Miall, der über die Rolle der Vorwegnahme beim Lesen von Gedichten und Literatur publiziert hat (Anticipation and Feeling, siehe https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/0304422X95000044 ).

Viele Grüße,

Thomas

Am 31.07.2024 um 00:54 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



Am 30.07.2024 um 17:17 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



Am 30.07.2024 um 14:30 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Vielleich kann man es so sehen, dass verschiedene Erfahrungen miteinander in Verbindung gebracht werden. Und das ist nicht nur ein Trick, mit dem Verschiedenes gewaltsam unter einen Hut gebracht wird um dann zu sagen: es ist doch gar nicht verschieden. Es kommt mir nämlich so vor, dass ursprünglich nicht das subjektive Erleben ist, die Sinneswahrnehmung z.B., und davon ausgehend hypothetisch auf eine Aussenwelt geschlossen wird,
sondern ein Erleben, das noch nicht zwischen subjektiv und objektiv unterscheiden kann und sich erst durch die Körpererfahrung als Subjekt kennenlernt.
Die verschiedenen Erfahrungen, die miteinander korrelieren wären z.B.: mir wird ein Farbmuster gezeigt und gleichzeutig werden mit bildgebenden Verfahren bestimmte Vorgänge im Wahrnehmungsapparat beobachtet. Daran ist doch nichts Rätselhafteres als am Alltag insgesamt. Mit solchen Beobachtungen, wenn auch ohne Labormaschinerie, gehen wir doch durchs Leben.

Moin Claus,

so weit sehe ich das auch so. Aber hinzu kommt doch die verblüffende tägliche Erfahrung, dass wir einschlafen und das Bewusstsein verlieren und wieder erwachen und das Bewusstsein wiedererlangen; und zwar wie von selbst!? Was geht da im Hirn vor sich?

Das ist eine Frage, die sich Penrose/Hameroff auch gestellt haben. Die Hameroffschen „Microtubuli“ (schwingende Gebilde im Gehirn) werden chemisch temporär „disabled“, somit daran gehindert, per Resonanz mit dem Umfeld verbunden zu sein. Sobald diese Blockade wieder gelöst ist (Aufwachen nach der Narkose) geht es wieder munter weiter mit dem Resonanzgeschehen zwischen Gehirn und seiner biochemischen Umgebung. Soweit zur These von Hameroff/Penrose, die jedoch z.B. von Max Tekmark vehement bestritten wird. Andere diesbezügliche Denkmodelle finden sich bei Tononi:
„Jeder weiß, was Bewusstsein ist“ (meine Frage: wissen wir es wirklich?)
Tononi weiter:
„Es ist das, was jede Nacht verschwindet, sobald wir in einen traumlosen Schlaf fallen, und wiederkommt, sonald wir aufwachen oder träumen. So gesehen ist der Begriff Bewusstsein synonym mit Erleben“

Und das funktioniert ja auch mit Chemikalien. Für mich ein weiteres Indiz für den Primat der Physis vor der Psyche. Im Anschluss an die Subjekt/Objekt-Unterscheidung sehe ich mein Erleben von innen heraus als aus (psychischen) Erlebnissen und nach außen hin als aus (physischen) Ereignissen hervorgehend. Dem Monismus folgend haben Psyche und Physis eine gemeinsame Grundlage in der Hirnphysiologie und sind somit identisch bzw. lediglich zwei Seiten einer Medaille. Solange das aber nicht hinreichend genau untersucht worden ist, bleibt es bloß eine plausible und voraussetungsarme Hypothese.  

Primat der Physis vor der Psyche?

Selbstredend hat Psyche (also Bewusstsein) keinen Ort ohne Physis, was mit deren temporär wie endgültigen Ausschalten (Exodus) hinreichend gezeigt ist.

Damit ist jedoch nicht gezeigt, dass die Physis zum Primat erhoben ist, da sie ohne Psyche, sprich ohne Geist eben nichts als leblose Masse darstellt. Es ist die wechselwirkende Einheit von Körper und Geist, die man ganzheitlich und nicht dualistisch in Betracht zu nehmen hat.

Das technische Beispiel eines Computers (so trivial es anmuten mag) zeigt, was ich zum Ausdruck bringen will:
Die Hardware eines Computers ist als „Körperlichkeit“ und somit als pure Physis zu sehen. Ohne darauf ablaufende Softwareprogramme, wäre sie ein nutzloses Gebilde.

Als entscheidendes, substratunabhängiges Element einer Rechnereinheit ist die darauf laufende Software (in Teilen das BS, in Gänze der Programmcode) zu sehen.

Das Primat bezüglich der Nutzung, resp. der Existenz von Rechnern überhaupt, liegt also weder isoliert  in der Hard- noch in der Software, sondern in seiner Einheit - eben der Rechnereinheit (wie diese auch als stehender Begriff etabliert ist).

So gilt für diese Einheit: Nichts geht diesbezüglich, wenn deren Elemente voneinander getrennt sind, d.h. weder ohne Hardware, noch ohne Software keine Rechenleistung, im übertragenen Sinn also kein „Computerleben“, einerlei, ob man erstere oder letztere zum Primat erheben wollte.

Ebenso das Menschsein: Körper und Geist formen den Menschen, lassen ihn lebendig, aktiv sein: „Anima forma corporis“.  Geist und Körper als hylemorphistische Einheit und eben kein dualistisches Unterscheiden, resp. Priorisieren zwischen res cogitans und res extensa.

Das heisst nun nicht, dass man keine trennende Sicht auf Geist und Körper haben könnte, diese jedoch nicht im Sinne einer dualistischen Betrachtung vorgenommen sein kann.
Dem steht aber nicht entgegen, die sog. Seele (das innerste Wesen) des Menschen dem introspektiven Bereich der „res cogitans“ und somit auch seiner Subjektivität zuzuordnen. Hingegen die „res extensa“ der Körperlichkeit des Menschen in den objektiven Gesichtspunkten von Maß, Zahl (sic!) und Gewicht etc. zu werten ist.

Somit ergibt sich eine Verbindung hinsichtlich einer zeitgemäßen Sicht, sowohl im Sinne einer philosophischen, vornehmlich auf die Einheit von Geist und Körper bezogene, sowie die eher naturalistisch-reduktionistische Sicht auf den Bereich des Physischen.

KJ
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