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Am 16.11.2023 um 18:49 schrieb Dr. Dr. Thomas Fröhlich <dr.thomas.froehlich@t-online.de>:

Lieber Karl,

ich danke Dir für Deine einfühlsame Schilderung!

Die Energie, von der Du sprichst, ist Mit-Teilungs-Energie, im Sinn des quellgebundenen Teilens einer gemeinsamen „semantischen Achse“, oder wie man die Konvergenz-Dnamik auch immer bebildern mag.


Quellgebunden heißt im Fall von Menschen und menschlicher Liebe auch leiblich, „aus dem Bauch oder von Herzen“ als semantischem Ort kommend.

Die in meinen Augen derzeit beste Philosophie zum Thema Leiblichkeit wurde vom Phänomenologen Hermann Schmitz entwickelt: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Schmitz_(Philosoph) 

Auf sie wird durch Ärzte und Psychotherapeuten oft zurückgegriffen.

Die Energie, von der Du schreibst ("Insoweit sollte jeder einfühlsame Mensch erkennen, dass hier benannter Aufwand - also Energie - zum Erreichen und Erhalt eines gemeinschaftlichen Zusammenwirkens (resp. Zusammenschwingen als eben Kohärenz) keine bloßen Worte sind, sondern diesbezügliches „enacting“ tagtäglich von wirklich sehr vielen Mensch betrieben wird. „)

ist sicher keine metrische, sondern eine obligatorisch quellgebundene, prozessuale und in wechselseitiger Information befasste „Energie“. Das heißt, sie setzt an der Gegebenheit distinkter, Perspektive-stiftender Quellen, an deren die Quellen als Potentiale verwirklichendem Tätigsein, an spezifisierender Kontaktaufnahme und der Erfassung und schließlichen Hereinnahme von Aspekten des anderen an.

Bei so vielen an die Struktur, Perspektive und Mitteilungsfähigkeit der Beteiligten gebundenen Voraussetzungen gewinnt der Energiebegriff einen inhaltreichen, Zeit- und Orts- und jeweils Qualitäts-bezogenen Charakter, er ist in einem jeweiligen Innen gegründet, das sich konstitutiv von seinem Außen unterscheidet.

Die überwölbende Gemeinsamkeit ist nicht einfach, wie der metrisch gedachte Raum und die metrisch gedachte Zeit gegeben, sondern muss im Streben und aufeinander bezogenen Handeln „mühevoll“, das heisst unter Einsatz von Arbeit erstellt werden. Sie muss erarbeitet werden.

Ergon heißt ja das Werk, die Arbeit, und quellgebundene, prozessuale und in wechselseitiger Information befasste „En-ergie“ ist das Werk miteinander komminizierender Quellen. (Energeia heißt bei Aristoteles ja die Verwirklichung der dynamis, der Quelle, des Potentals).

Die allgemeinste Form des Gegenüber ist ein die Jeweiligkeit aller Quellen transzendierendes, dabei aber mit diesen verbundenes, selbst nicht jeweiliges Gegenüber. Für diese Paradoxie des Selbst-Seins, das zugleich jedwedes Selbst-Sein transzendiert dient die Bezeichnung „Gott“.

Mein philosophisch-philologischer Ratgeber Arbogast Schmitt hat hierzu ein Buch geschrieben: 

https://brill.com/display/book/9789004443570/BP000018.xml

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004443570_014

Arbogast Schmitt: Gibt es ein Wissen von Gott?
Plädoyer für einen rationalen Gottesbegriff
(Studien zur Literatur und Erkenntnis, Band 17),
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019, 251
Seiten

Ich zitiere aus der o.g. Besprechung:

Gegen viele Fehlinterpretationen streicht er immer wieder heraus, dass Aris-
toteles die Herleitung des Wissens von den Dingen gerade nicht „auf transzen-
dente, ewige Ideen und Prinzipien gründen, sondern aus der ihnen immanen-
ten Substanz erklären wollte.“ Er habe „viele Reflexionen über die Methoden
und Prinzipien einer richtigen Naturbetrachtung angestellt“ (12), auf die der
Autor mehrfach zurückgreift. Weil die Moderne dieses wissenschaftliche Pro-
gramm ausblendet, sieht sich der Autor veranlasst, stets aufs Neue die Bedeu-
tung der methodischen Reflexion von Aristoteles einzuholen und hinsichtlich
ihrer Sachbezogenheit durchzuspielen. Die Aufklärung legt den Akzent auf die
Mächtigkeit der Vernunft und auf die Erfahrung als Grundlage für die Bestim-
mung der Dinge, während Aristoteles die Fähigkeit des Unterscheidens als Basis
aller Erkenntnis in der Begegnung mit den wirklichen Dingen zur Anwendung
bringt.
Während die Neuzeit dem Denken die Aufgabe der Repräsentation, Verge-
genwärtigung und Erhebung ins Bewusstsein zuschreibt, verfügt Aristoteles
weder über einen Begriff von Bewusstsein noch von mentaler Rekonstruktion.
In seiner Wissenschaftstheorie, den Zweiten Analytiken, bestimmt er vielmehr
alle Bedingungen in methodischer Folge, um das zu ermitteln, was genau ein
bestimmtes ‚distinktes‘ Etwas-Sein hat. Im Ergebnis stellt er fest: Dieses rein
für sich selbst erkennbare Sein ist kein einzelner Gegenstand, auch kein idealer
Gegenstand. Es wird vielmehr als die Summe ganz bestimmter Möglichkeiten
erkannt, als Bestimmtes zu sein (z.B. ein Dreieck oder ein Mensch).
Dieses Sein ist aber deshalb nicht etwas nur Gedachtes, es ist im Gegenteil
etwas, von dem man das sicherste und tatsächlich ein allgemeingültiges
Wesen hat. Das so Erkannte ist wirklich, was es ist, und es existiert auch
als dieses Erkannte. (17)
Sein ist daher das innere Maß des Denkens selbst. Über dieses Maß verfügt das
Denken apriori.


In diesem Zusammenhang interessant ist auch:

Arbogast Schmitt, Denken ist Unterscheiden. Eine Kritik an der Gleichsetzung von Denken und Bewusstsein (Studien zu Literatur und Erkenntnis, Band 18), Heidelberg 2020, 239 Seiten


siehe https://brill.com/display/book/edcoll/9789004501881/BP000014.xml?language=de

So viel zum frühen Abend,

Das ist sehr wohl viel profunde Kenntnis bezüglich der hier zuletzt erörterten Thematik, mit der Du (sicher nicht nur mir) das eigentlich entscheidende Kriterium, die Voraussetzung von gelingender wechselseitiger Information verdeutlicht hast: Energie als Werk interagierender Quellen. 
Zum bei mir gewohnt späten Abend, eher aber tiefe Nacht, bedarf es noch einiger „dynamis“, um Deine Ausführungen gedanklich zu verarbeiten. Unser offenbar gemeinsamer Bezug auf Aristoteles‘ Vorstellung von Verwirklichung eines gegebenen Potentials nach Leibnizens Deutung „Admirabilis transitus a potentia ad actum“ erleichtert uns „Mythologen“ den wechselseitigen Austausch beträchtlich. Daher auch mein herzlicher Dank für Deine Ausführungen!

Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl