Am 13.03.2024 um 10:00 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



ja, wir verfallen immer wieder dem Anthropomorphismus und unseren Vorurteilen. Deshalb orientiere ich mich an Einstein, weil er ein Mensch war, der ein  weitgehend invariantes Leben führte und sich entsprechend neutral in die Natur einfühlte. Folglich verließ er sich nicht auf die Umgangssprache mit ihren stets mitgedachten Qualitäten, sondern wählte die Mathematik mit ihren lediglich mitgedachten Quantitäten. Zugespitzt formuliert: Wir sehen in allem Qualitäten, in der Natur aber gibt es nur Quantitäten. 

Womöglich verstehe ich den von Dir intendierten Zusammenhang Deiner Aussage nicht „Wir sehen in allem Qualitäten, in der Natur aber gibt es nur Quantitäten“.

Es ist doch geradewegs ein Glücksfall, dass Menschen ihre Lebenswelt in ihrer ganzheitlichen Gestaltgebung, in ihren mannigfaltigen Ausformungen von Materie, wie gerade die Natur diese in den bizarrsten Formen hervorbringt, sehen können. Gäbe es in der Natur (als Ganzes gesehen) nur Quantitäten, bzw. würden Menschen zur deren Wahrnehmung keine Augen, sondern Mikroskope oder Geigerzähler im Kopf haben.  

Schön langsam komme ich dem Irrenhaus näher, nachdem ich nun gänzlich meine bisherigen Vorstellungen von visueller Wahrnehmung der Außenwelt über den Haufen werfen muss. Bisher glaubte ich zu wissen, dass die prozessuale Verarbeitung des Seheindrucks mit der Wahrnehmung einer Gegenständlichkeit über Linse und Glaskörper beginnt, die solchermaßen einfallenden Lichtstrahlen als ein reziprokes Bild auf der Netzhaut entstehen lassen. Die fort platzierten Photorezeptoren reagieren und produzieren demenstprechende elektrische Signale, die das aus Nervenzellen geformte Bündel (den Sehnerv) erregen und von dort weiter über den Thalamus zum Sehzentrum gelangen. Im visuellen Cortex als Teil der Großhirnrinde werden die vom Auge rezipierten Reize als visuelle Information aufbereitet und in den Rindenfeldern dann ein zusammengefasstes Bild erzeugt.

Also das ist ein Prozessablauf von bewundernswerter retinotoper Organisation, die immer noch nicht in ihrer vollen Komplexität vollständig gewusst ist. Sehen ist demnach weitaus vielschichtiger, als lediglich optische Reize in Nervenimpulse zu wandeln.

Das eigentliche Problem ist, dass das Auge keine fertigen Bilder, sondern eben nur eine Kompilation von Punkten (jedoch nicht im Sinne von Quantität!) in einem begrenzten Rahmen zur weiteren (qualitativen)  Verarbeitung im Gehirn bereitstellt, was dort jedoch zu beliebigen Fehlinterpretationen führen kann, die mit der sinnlich erfassten Gegenständlichkeit nichts mehr gemein haben.

Damit hat Goethe recht, wenn er sagt: „Die Sinne trügen nicht, sondern das Urteil“.

So wird nun deutlich, dass wir sehr wohl in der Natur zunächst „Quantitäten“ wahrnehmen, um diese dann im Gehirn zu Qualitäten werden zu lassen, dieses als eine zutiefst subjektiv ablaufende Konklusion. Dennoch kann man davon ausgehen, dass im Zusammenspiel aller Sinne bei der Rezeption und Verarbeitung von Information ein lebenspraktisch hinreichender Gesamteindruck im Sinne multisensorischer Integration entsteht und somit üblicherweise Wahrnehmungsillusionen minimiert werden. Was bleibt und zählt(sic!), ist die eigentliche Qualia der Natur, einerlei, ob sie von Menschen wahrgenommen wird oder nicht.

 Bester Gruß in die Runde! - Karl