Am 19. Juli 2024 15:28:03 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb" <philweb@lists.philo.at>:
Hier nurmal ein paar erste Überlegungen zum allerersten Absatz des besagten Kapitels (6.1). Interessiert ja wahrscheinlich niemanden hier, weil man offenbar lieber freidrehende Allerweltszeitdiagnosen verkündet; ich schreib das hier dann einfach vor allem für mich selber auf. (Und bin erst bei der ersten Seite des40-seitigen Kapitels...)
Clausewitz (ab jetzt Cl.) will offenbar v.a. darauf aufmerksam machen, daß die konventionellen Kriegsbeschreibungs-Begriffe viel zu unscharf sind, um dem uneindeutigen Geschehen auf dem „Kriegstheater“ (Cl.s Ausdruck) gerecht zu werden; das gilt schon für den scheinbar elementar-einfachen Begriff der „Verteidigung“. Das damit Gemeinte (also: nur reagieren, nur den „Stoß“ des anderen abwarten) muß relativiert werden, denn wenn sich Verteidigung darauf vollständig beschränken würde, wäre das eben jene (schon angesprochene) märtyrerhafte Option der völligen Gewaltlosigkeit, die verhindert, daß es zu einem „Krieg“ überhaupt kommt - freilich mit dem hier bereits diskutierten Risiko der vollständigen „Auslöschung“: aber selbst das wäre eben dann "einkalkuliert"; man will dann lieber tot sein als sich dem Odium der eigenen (!) Gewaltausübung auszusetzen (will sich „die Hände nicht schmutzig machen“); man kennt die Fälle, in denen jemand, der einen lebensbedrohlichen Angreifer in reiner „Notwehr“ getötet hat, trotzdem lebenslang Gewissensbisse hat.
Daher meint Cl., daß das „Merkmal des Abwartens und Abwehrens“ nur relativ ist, es kann auch schon zur Kriegsstrategie gehören (es kann also schon echter „Krieg“ sein), wenn man einen Angriff abwartet (in einer wohlpräparierten Festung oder Gefechts-Stellung z.B.): denn man hat sich ja damit schon zur Gewaltanwendung längst entschlossen, man wartet nur noch den „richtigen“ Moment ab, weil das eben die vorteilhaftere Kriegsstrategie ist. Auf den Angriff zu „warten“, ist also keine prinzipiell nicht-bellizistische, „pazifistische“ Option, sondern ein Modus der Kriegsführung wie andere auch. Und andersherum wird man ebenso zugeben müssen, daß auch „offensive“ Aktionen eigentlich verteidigenden „Sinn“ haben können, wie all das, was sich als Prävention rechtfertigen will (bis hin zur Phrase vom Angriff als „beste Verteidigung“). Kap. 6.1 schließt so:
„Die verteidigende Form des Kriegführens ist also kein unmittelbares Schild, sondern ein Schild, gebildet durch geschickte Streiche.“
Das lese ich so: Es gibt keine rein defensive Kriegstaktik (die römische Formation "Schildkröte" bei Asterix), sondern wer sich überhaupt verteidigen will, muß auch (pro)aktiv sein, nicht nur sein Schild (Scutum) hochhalten, sondern mit der anderen Hand auch das Schwert benutzen. Das Aktive und das Passive gemeinsam machen erst die (sinnvolle, erfolgversprechende) Verteidigung aus.
Was immer Cl. damit sagen will, eines scheint er eben auf jeden Fall ausschließen zu wollen: Angriff und Verteidigung lassen sich durch die üblichen Koordinaten von Zeit und Raums NICHT (so ohne weiteres) unterscheiden: weder ist der, der „angefangen“ hat, per se der Angreifer, noch der, der nur reagiert, der Verteidiger („ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“ ist ja die Standardlüge zu praktisch jedem Kriegsausbruch), noch ist der, der auf „eigenem Territorium“ kämpft, deswegen schon der Verteidiger (man kann zur effektiven „Verteidigung“ die eigenen Landesgrenzen überschreiten müssen: auch das zeigt der Ukraine-Krieg gerade). Also: alle diese „einfachen“ binären Beschreibungen und Zuordnungen (die uns ja letztlich nur die moralische Wertung gut/böse bzw. die Identifikation Freund/Feind erleichtern sollen) sind falsch, zumindest: fraglich. Und daher: kaum hilfreich.
(Und nur als „popkulturelles“ Beispiel: das (z.B. früher in der DDR) gern zur Rechtfertigung von Aufrüstung herbeizitierte Wilhelm-Busch-Gedicht „Bewaffneter Friede“ vom Igel als „Friedensheld“ ist eben vielleicht auch nur wenig durchdachte Poesiealbums-Folklore).
(to be continued)
J. Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Landkammer, Joachim über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>
Gesendet: Mittwoch, 17. Juli 2024 20:58
An: philweb <philweb@lists.philo.at>
Cc: Landkammer, Joachim <joachim.landkammer@zu.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
IT: "mich störte Deine voreilige Verallgemeinerung Clausewitzens. Um eine textkritische Interpretation geht es mir nicht, sondern nur ums Weiterdenken. "
Genau, das Voreilige hat mich selber auch gestört. Deswegen muß man es "weiterdenken", richtig. Aber man wird doch vermuten dürfen, daß Clausewitz selber es auch schon "weitergedacht" hat, vielleicht sogar "weiter", als wir selbst es jemals denken können. Deswegen scheint es sinnvoll, erstmal zu lesen. Und überhaupt scheint mir, daß es der Diskussion hier allgemein gut tun würde, wenn sehr viel mehr gelesen und "interpretiert" würde, anstatt immer gleich eigene (mehr oder weniger qualifizierte, originelle, neue) Meinungen abzusondern. Das hängt auch mit der nervös hohen Schlagzahl der Interventionen hier zusammen. Wir sollten vielleicht sowas ausmachen wie: jetzt mal eine Woche Sendepause, dann reden wir über Clausewitz´ 6. Kapitel über "Verteidigung" weiter. (Den von dir empfohlenen Text von Leeuwen/Elk hab ich auch immer noch liegen, und wollte mich noch dazu äußern, bin aber noch nicht zum Lesen gekommen). Aber das paßt offenbar nicht zur Vorgehensweise dieser Liste hier, über die ich ja nicht zu bestimmen habe.
IT: "Ja, das sehe ich auch so, halte die These [Krieg als Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln, JL] aber nicht für famos, sondern für gefährlich militaristisch. Das ist Aristokraten-, Diktatoren- oder Autokraten-Politik. "
Richtig, "famos" war das vollkommen falsche Wort, ich wollte nur sagen "famous", berühmt. Aber "militaristisch" ist das Motto gerade nicht, das ist Unsinn. Man kann zeigen, daß es gerade radikalen Pazifismus möglich macht: weil es Krieg eben als eine primär "politische Option" versteht, gegen die man eben auch POLITISCH vorgehen kann. Aber auch dazu müßte man weit ausholen und sich den Hintergrund bei Clausewitz genauer anschauen. Also auch wieder: lesen.
IT: "wenn ein Machtpolitiker [...] aus den Drohungen Gewaltausübungen macht, dann handelt es sich unabhängig davon, ob der Angegriffene sich verteidigt, um einen Angriffskrieg. Denn wie anders als mit Gewalt können Truppen ohne Visa oder vereinbart die Grenze überschreiten?"
Es gibt ganz viele "Annexionen" in der Weltgeschichte, die genauso funktioniert haben: man ist einfach ins (wehrlose, sich nicht wehrende) Nachbarland einmarschiert und hat es okkupiert, fertig. Kein einziger Pistolenschuß, kein einziger Verletzter, kein einziger Sachschaden. Niemand hat das je "Krieg" genannt. Krieg ist es erst, wenn der Annektierte sich wehrt.
JL, jetzt erstmal in Lesepause.
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