Hi Ingo,

(ich komm noch mal auf das hier vom letzten Freitag zurück, kann z.Zt. nicht so schnell reagieren; außerdem bin ich natürlich so wißbe- wie neugierig, denn, wie es JH ja so schön formuliert hat: „JL muss noch ein wenig von IT belehrt werden, bis er das alles versteht“…)
Deine schönen („belehrenden“?) Gegenüberstellungen Organismus/Person, Zwecksetzungsautonomie/Naturnotwendigkeit, Zwecksetzung/Mittelwahl ist doch, denke ich mir in meiner belehrungs-renitenten Art, wie jeder andere Dualismus nicht so ganz ernstzunehmen, das verhindern doch schon die vielfältigen Abhängigkeiten, Überschneidungen, Untrennbarkeiten, über die man doch eigentlich seit der Scholastik diskutiert. „Person“ ist man nicht ohne den jeweils eigenen biologischen Organismus, und gleichzeitig ist jede Person viel mehr als nur Organismus (bis hin zur Möglichkeit, mit dem Suizid z.B. die wohl „anti-organistischste“ Entscheidung gegen jede „Biologie“ treffen zu können). Ebenso macht „Zwecksetzungsautonomie“ eben nicht halt vor „Naturnotwendigkeiten“, wenn sie diese technisch, kulturell, moralisch, genetisch permanent aufweicht und verschiebt. Und Mittel verhalten sich nicht neutral zu den Zwecken, sondern verändern/verfälschen/steuern sie. Die Gleichungen „Gesundheit=Zweck“ und „Medizin=Mittel“ sind doch zum Beispiel angesichts der Abstraktheit (und kulturell-politisch normativen Geprägheit) des Gesundheitsbegriffs viel zu simplizistisch; sie treffen z.B. die vielen medizinischen „Enhancement“-Maßnahmen nicht, die offenbar jeweils ganz besonderen Vorstellungen von „Gesundheit“ ausgehen (z.B. Potenzmittel, Stimulantien oder lebensverlängernde Maßnahmen aller Art), dazu noch die Frage der Temporalität und der Langzeitfolgen, also die Frage, ob nicht auch eine Medizin „zweckgerecht“ ist, die mich heute „gesund“ (in welchem Sinn?), übermorgen dafür vielleicht „krank“ (in welchem Sinn?) macht, usw.

Und das war schließlich auch der hier Ursprung des mittlerweile in der Tat weit abschweifenden „Thread-Themas“: die Frage, für welchen Zweck „Gewalt“ ein „richtiges“ Mittel sein kann, und ob sie sich überhaupt in einer Zweck-Mittel-Relation adäquat fassen läßt. Aber richtig ist jedoch, daß wir von diesem Ausgangspunkt weit entfernt sind. Insofern würde ich als zwar noch weiter tunlichst zu „belehrender“ (da „das alles“ noch nicht verstehender) aber immerhin diesen Topic verschuldet habender Gesprächsteilnehmer der Beendigung/Änderung des Threads zustimmen.
JL

 

Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>
Gesendet: Freitag, 23. August 2024 15:51
An: philweb <philweb@lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann@tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?

 

Moin Joachim,

 

ja, in der Kritischen Theorie tut man sich schwer mit dem Akzeptieren von Naturnotwendigkeiten, insofern bin ich ein untypischer Sympathisant. Besser bzw. überhaupt zusammen kommen Natur und Kultur bei den Methodikern in der Nachfolge Lorenzens. Mit seinem Schüler Janich steht der in einer propositionalen Sprache als Abblild der Welt beschriebene naturgesetzlich reagierende Organismus der zwecksetzungsautonomen Person mit ihrer auffordernden Sprache der Kooperation gegenüber. Der Kulturalist Janich suchte einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen postmoderner Beliebigkeit und klassischer Methodenstrenge in einer erneuten Wende – nach linguistic turn und pragmatic turn – zum methodischen Kulturalismus. 

 

Als zwecksetzungsautonome Person sehen wir uns doch beide gerne, oder? Zugleich sind wir aber auch naturgesetzlich reagierende Organismen. Methodisch nachvollziehbar lassen sich Zwecke schwerlich im Widerspruch zu den Naturnotwendigkeiten realisieren. Insofern sich Person und Organismus, Zwecksetzung und Mittelwahl trennen lassen, können auch Natur/Bio- und Soziorhythmen unterschieden werden. Gesundheit ist bspw. Zweck und Medizin Mittel. Meine Oma hat mir die wiederholte Bemerkung hinterlassen. „Jeder Wunsch wird klein, neben dem gesund zu sein.“ Aber was wären für Dich sinnvolle Zwecksetzungen? „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“? „Friede, Freude, Eierkuchen“? „Wein, Weib und Gesang“? „Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll“? „Friede und Glückseligkeit“? „Erkenntnis und Verständnis“? Meine wiederholt vorgebrachte Politmaxime wäre: „Erstrebe das soziale Optimum zwischen dem Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen und der Ausgestaltung der persönlichen Lebensmöglichkeiten!“       

 

IT

 

 

Am 23.08.2024 um 09:32 schrieb Landkammer, Joachim über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

 

Lieber Ingo,

du weißt vermutlich viel besser als ich, daß „Naturnotwendigkeiten akzeptieren“ und „den Maximen der kritischen Theorie folgen“ (zwei deiner positiv konnotierten Aussagen aus deinem letzten Beitrag) stark dazu tendieren, miteinander zu kollidieren. Hat nicht gerade die „kritische Theorie“ darauf hingewiesen, daß „Naturnotwendigkeiten“ meist nichts als Ideologeme konservativer Kräfte sind? Und gerade dein Max-Planck-Leute-Zitat bestärkt mich natürlich gerade: wenn diese „inneren Uhren“ Tiere und Pflanzen „optimal an die im Tagesverlauf veränderten Umweltbedingungen anpassen“ können, dann laßt uns doch – könnte man sich vorstellen - an die heute technisch mögliche weitgehende Unabhängigkeit von Tageslicht und Jahreskreislauf „besser“ anpassen. Die von dir aufgemachte Trennung von Natur/Bio- und Soziorhythmen ist ja wahrscheinlich so einfach gar nicht aufrechtzuerhalten, weil sie ja doch vielfältig miteinander verknüpft und verhakt sind; wer sozial „progressiv“ sein will, darf sich daher durch die Naturwissenschaften und die „Biologie“, die allzugern nur zur Legitimation von repressiven Sozialnormen (z.B. durch den Mythos „Gesundheit“, früher ja auch gern „Volksgesundheit“ genannt) herhalten müssen, nicht aufhalten lassen. 
Ja, meinetwegen Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“: aber wirkliche, zu Ende gedachte, alle Alternativen mitbedenkende und ggf. offenlassende (!) „Einsicht“ müßte es dann schon bitte sein, sonst klingt mir das irgendwie zu totalitär.

JL