Unser Seminar bildet eine politisch-theologische Diskussion zu Rousseaus
Staatstheorie und ihrem historischen Kontext. In seinen beiden
Preisschriften – "Abhandlung über die Wissenschaften und Künste /
Discours sur les sciences et les arts" (1750) und "Abhandlung über den
Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen /
Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les
hommes" (1755) – und in seiner Erziehungsschrift "Emil, oder Über die
Erziehung / Émile, ou De l’éducation" (1762) will Rousseau das Leid der
Menschheit erklären: Dieses resultiere nicht aus der Natur des Menschen,
sondern ‚hausgemacht‘ aus dessen gesellschaftlichen Konstrukten.
Rousseaus Anthropologie und Geschichtsphilosophie sind bei dieser
Problemschilderung tiefgehend theologisch geprägt, und so verhält es
sich auch mit der Schrift, in welcher er die Problemlösung erarbeiten
will: "Vom Gesellschaftsvertrag / Du contrat social" (1762). Wie er sich
in seinem Argumentieren bereits vorher wiederholt kulturpolitisch auf
den Calvinismus seiner Heimatstadt berufen hat, publiziert er auch diese
Schrift dezidiert als „Bürger von Genf / Citoyen de Genève“. Seine
zentrale Frage dabei ist, von welcher Religion ein Staat beschaffen sein
muss, damit er als Gemeinschaft bestehen kann; so lautet das letzte
Kapitel „Von der bürgerlichen Religion / De la religion civile“.
Rousseaus bürgerliche Religion weist eine immense Wirkungsgeschichte
auf: Sie ist maßgebliches Movens des "Kultes der Vernunft / Culte de la
Raison" in der Französischen Revolution und prägt entscheidend die
deutschsprachige Philosophie um 1800. Als Rousseau nach seinem
literarisch so produktiven Jahr 1762 von der katholischen als auch von
der reformierten Kirche verfolgt wird, legt er demonstrativ seine Genfer
Staatsbürgerschaft nieder.
Wir werden den Inhalt von Rousseaus politischen Schriften und deren
praktische und theoretische Wirkung unter dem Stichwort ‚Theokratie‘
diskutieren, wobei wir sowohl auf den Calvinismus wie auch auf den Kult
der Vernunft der Französischen Revolution eingehen. Begleitet werden wir
von Rousseau-Interpretationen, die sich über Staël, Cassirer, Barth,
Starobinski, Fetscher bis hin zur aktuellen Forschung erstrecken. Auch
thematisieren wir Rousseaus Wirkung auf die Anfänge des Deutschen
Idealismus anhand einschlägiger Texte.
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