Am 23.06.2020 um 01:36 schrieb K. Janssen via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Danke für den Link auf dieses Dokument! Es passt idealerweise in meine derzeitigen
Überlegungen zum Thema. Wer es etwas zugänglicher (ohne mathem. Formelwerk) haben will,
könnte Sean Carolls Buch "Something Deeply Hidden" (in den letzten Kapiteln
insbes. zu "cosmological constant problem" und "Vacuum Energy") lesen.
Aber auch hier wird das Thema (wie Du schreibst) natürlich nur als ein Aspekt unter vielen
erörtert.
Nebenbei: Kannst Du Dich mit Everetts Thesen anfreunden?
Hi Karl,
von Sean Caroll gibt es ja einige lesenswerte Artikel auf arXiv. Auch welche zu seiner
Variante der Ableitung der Bornschen Wahrscheinlichkeitsinterpretation innerhalb der
Viele-Welten-Deutung der QM (MWI) durch "Self-Locating Uncertainty“. Ich hatte
erstmals vor rund 40 Jahren im Seminar zur QM von Everetts MWI gehört und mich dafür
interessiert, weil in einem Artikel von Bryce DeWitt in Aussicht gestellt wurde, dass sich
die Interpretation der QM in der MWI gleichsam aus sich selbst heraus ergebe. Ein
Formalismus, der seine eigene Interpretation hervorbringe? Das fand ich interessant,
allerdings ist es bis heute niemandem gelungen. Damals referierte ich über "Bryce S.
DeWitt, Quantum mechanics and reality. Could the solution to the dilemma of indeterminism
be a universe in which all possible outcomes of an experiment actually occur?“ Heute ist
der Artikel frei verfügbar:
https://physicstoday.scitation.org/doi/10.1063/1.3022331
<https://physicstoday.scitation.org/doi/10.1063/1.3022331>
Everetts Deutung der QM ist originell, obwohl auch er nur Einstein nachahmt, indem er für
die QM-Zustände analog eine „Relativität" annahm, wie Einstein sie für die
Bezugssysteme gewählt hatte. Deshalb nannte er seinen Ansatz ja "Relative state
formulation“ der QM. Schon Heisenberg war in seiner Arbeit "Quantentheoretische
Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen“ 1925 dem Vorbild Einsteins von 1905
gefolgt und hatte seine Matrizenmechanik wie Einstein schon seine Elektrodynamik in einen
kinematischen und einen mechanischen Teil untergliedert.
So originell wie die MWI ist, ist sie doch eher science fiction denn science.
Grundsätzlich bleibt die QM unvollständig, wenn sie nur aus einer Feldgleichung (der
Schrödingergleichung) heraus verstanden werden will. Hinzu kommen muss auch eine
Bewegungsgleichung für die Teilchen. So ist das ja auch in den anderen physikalischen
Theorien. Und damit überzeugen die Bohmsche Mechanik wie auch ein Verständnis der QM als
Diffusionstheorie. Statistische Physik und mathematische Stochastik sind der angemessene
Rahmen für die QM. Warum die aber noch immer nicht allgemein Eingang in die Lehrbücher
gefunden haben, ist ein interessanter Aspekt der Wissenschaftsgeschichte wie -soziologie.
Ansonsten lese ich angeregt durch seine Artikel in arXiv gerade in dem Buch „Back to
Reality - A Revision of the Scientific Worldview“ von Arto Annila. Der scheint mir mit
seinem grundsätzlichen Ansatz, alles aus den Quanten heraus verstehen zu wollen, H.P. Dürr
nahe zu kommen, für den ja alles aus den WIRKS hervorgehen sollte. Während Dürr aber keine
nachvollziehbare Herleitung seiner allwirksamen WIRKS aus der Physik vorführt, wählt
Annila einen allgemein thermodynamischen Ansatz, nach dem die Quanten als Licht letztlich
aus jeder Energiedifferenz hervorgingen und mit jedem Photon zugleich Energie und Zeit
hervorbrächten. Dazu entwickelt er sogar so etwas wie eine Bewegungsgleichung der
Evolution. Sehr interessant, aber eher Naturphilosophie denn Physik, so dass er
unterdessen seine Professur für Biophysik an der Uni Helsinki räumen musste. Schau mal
rein in seine Arbeiten:
https://www.mv.helsinki.fi/home/aannila/arto/
<https://www.mv.helsinki.fi/home/aannila/arto/>
Es grüßt
Ingo
PS. Ist Dir eigentlich schon aufgefallen, dass Philweb (hervorgegangen aus Philnet) in
diesem Jahr bereits 25 Jahre aktiv ist?