Hallo liebe Liste,
entschuldigt bitte, wenn meine Gedanken unausgegoren oder albern wirken.
Zunächst einmal: Meines Erachtens basieren die meisten ethischen
Systeme auf den Gedanken des "Freien Willens". Man macht Menschen für
Dinge verantwortlich, die sie tun, nicht für andere Dinge.
Meine Frage lautet nun: Nehmen wir an, eine neue Neuropsychologische
Theorie könnte aus Begleitumständen zwingend ableiten, wie sich eine
Person in Zukunft verhalten wird.
Wenn jetzt die Person A in den Umständen B sich befindet, dann wird A
z. B. ein Rowdy oder ein Dieb.
Können wir in dieser Situation im Ernst noch Person A für seine
Karriere als Dieb oder Knochenbrecher verantwortlich machen? Es waren
ja eigentlich nur die Umstände B, die ihn dazu führten. Er wäre als
Person für seine Handlungen ebensowenig verantwortlich wie
beispielsweise eine chemische Reaktion für ihren Verlauf
verantwortlich ist. Es liegt keine Entscheidung zu grunde.
Ein Kompatibilist könnte jetzt sagen, dass ich hier einen Denkfehler
mache. Wir haben nicht herausgefunden, dass es keinen "Freien Willen"
im Sittlichen Sinne gibt, sondern wie haben etwas neues über den
Willen erfahren. Eben das es sich dabei nur um die Neuropsychologische
Sache XYZ handelt.
Nur meines Erachtens erzwingt diese Interpretation weitreichende
Schlussfolgerungen in Bezug auf Verantwortung und Moral.
Man müsste also eine Ethik ohne Verantwortung erschaffen.
Kann mir jemand folgen?
Was denkt die Liste?
Gruß
Rat.
Hallo liebe Lesern,
wiedermal wende ich mich in Pseudo-Briefform an euch. Wir alle hier haben
ja irgendwann in irgendeinen Zusammenhang das *richtige* Argumentieren
gelernt. Diese Fähigkeit mag vielleicht in der Normalbevölkerung nicht
stark ausgeprägt sein (meine Einschätzung), aber sollte unter Philosophen
und eifrigen Lesern solcher Texte stark verbreitet sein.
Zu diesen Regeln des Argumentieren gehört unter anderem:
- Man soll es vermeiden, widersprüchliche Aussagen gleichzeitig zu
behaupten.
- Man soll zur Sache argumentieren. Es reicht nicht, z. B. nachzuweisen,
dass Einstein wahnnsinnig schlau ist, um ihn alles zu glauben. Einsteins
Behauptungen müssen selbst gründlich geprüft werden und wenn sie sich
bewahrheiten, so folgen wir Einstein.
- Man soll nicht so tun, als würde eine Prämisse A die Behauptung B
rechtfertigen, wenn B überhaupt nicht aus A folgt. (Wobei es hier Ausnahmen
zu geben scheint...)
Ich könnte jetzt noch diverses Rasierwasser ( ;-) ) und andere Dinge
anführen, meine aber, damit den Kanon halbwegs umrissen zu haben. Viele
Dinge sind ja auch umstritten, bzw. nicht allgemein geteilt.
Zum Beispiel das Beweispflicht-Gebot. Wer eine Behauptung aufstellt, der
muss sie auch beweisen, sonst ist sie (Irrtum vorbehalten) falsch.
Hitchens’ Rasiermesser: Was nicht begründet wird, darf ohne Begründung
verworfen werden.
Viele Menschen sagen jetzt aber, dass ein mangelnder Beweis nicht
rechtfertigt, einen Satz als falsch anzusehen. Beispielsweise - ich greif
mal willkürlich was raus - die Goldbachsche Vermutung ist bis heute nicht
bewiesen, dennoch gehen viele Mathematiker davon aus, dass sich ein Beweis
finden lassen müsste.
Wie Schopenhauer schreibt, kann ein Standpunkt trotz mangelnder oder sogar
irreführender Gründe dennoch richtig sein. Dass Gründe existieren
impliziert nämlich noch nicht, diese Gründe würden immer unmittelbar
vorliegen.
Nun gibt es bezüglich dieser Diskussionsregeln wiederum zwei Möglichkeiten:
Entweder sie sind selbst hinterfragbar (1) oder nicht (2).
Wenn (1) zutrifft, dann kann man über die Diskussionsregeln selbst eine
Diskussion starten und diese in Frage stellen. Wenn (2) zutrifft, dann ist
eben dies nicht möglich.
Gegen die Variante (2) spricht allerdings, dass einige Regeln offenbar erst
später eingeführt worden oder umstritten sind.
Die Variante (1) bringt uns zu dem Problem, nach wechlen Regeln wir
überhaupt Diskussionsregeln auswählen, bewerten sollen.
Kann man meinen Gedanken nachvollziehen oder schreibe ich Unsinn?
Gruß
Rat.
> Ich vermute, darin zeigt sich, daß wir nicht bei Null anfangen und uns unser
> Leben nur teilweise selbst ausdenken. (Zitat C.Z.)
#Hier klafft eine Lücke.
#Wie kommst du von den empirischen Tatsachen zu den Diskussionsregeln
#mit ihren merkwürdigen Status, irgendwo zwischen diskussionsethischer
#Norm, voraussetzungslosen Axiom, Annahme und abstrakter empirischer
#Gesetzmäßigkeit? (Zitat RF)
Fragst du, wie aus dem Neugeborenen ein ausgewachsener Mensch mit Lohnsteuerkarte wird, der dann auch so etwas wie Diskussionsregeln kennt?
Das weiß ich auch nicht so genau, kann allenfalls eine Skizze versuchen.
Man wird mit bestimmten Fähigkeiten geboren - Sinneswahrnehmung, Gestaltbildung, Gedächtnis, Verknüpfung von Ereignissen...-, findet sich in bestimmten Verhältnissen, die auf einen einwirken und die man sich zurechtzubiegen versucht, wird erzogen, bekommt alles mögliche beigebracht, es findet ein Austausch mit anderen statt und man denkt sich individuell und kollektiv etwas aus, u.a. Diskussionsregeln. So etwa stelle ich mir das vor.
Claus
null
Du hattest ja am 10.11. die (vermutlich eher rhetorisch gemeinte) Frage gestellt, ob Diskussionsregeln hinterfragbar sein sollten und, wenn ja, nach welchen Regeln wir sie auswählen oder bewerten sollten. Ich hatte daraus gemacht: nach welchen Regeln wir über sie diskutieren sollen. Das ist zugegebenermaßen nicht das gleiche. Bei ersterem könnte es z.B. darum gehen, ob alle zu Wort kommen oder Wiederholungen vermieden werden sollten. Die beiden Regeln wären kaum miteinander vereinbar, für beide gäbe es gute Gründe und es wäre nicht unbedingt der Einstieg in einen unendlichen Regress - das Problem siehst du ja auch. Es ging mir darum, wie man aus *dieser* Nummer wieder rauskommen könnte.
Die präzise Definition von Begriffen ist eine grundsätzlich nicht unberechtigte Forderung. So kann man "Schimmel" als "weisses Pferd" definieren. Aber auf die Frage "Und wie erkennst du die Farbe?" gibt es keine Antwort mehr. Insofern sind die Definitionen nicht mehr als das Tüpfelchen auf dem i.
Claus
-------- Ursprüngliche Nachricht --------Von: Rat Frag via Philweb <philweb(a)lists.philo.at> Datum: 18.11.17 12:54 (GMT+01:00) An: philweb <Philweb(a)lists.philo.at> Betreff: Re: [Philweb] Regeln der Argumentation
[Philweb]
Am 12. November 2017 um 15:08 schrieb Claus Z. <.(a)t-.de>:
> Zur Hinterfragbarkeit von Diskussionsregeln: Meiner Meinung nach sollen sie
> dazu dienen, Diskussionen in geordnete Bahnen zu lenken und z.B. jeden zu
> Wort kommen zu lassen.
Occams Razor soll dazu dienen?
> Aber heißt das, daß wir keine Regel ohne vorherige Problematisierung
> anwenden dürfen? Und uns erst über die Regeln der Regeldiskussion
> verständigen müssen?
Das wäre absurd.
Bevor wir über die Sache reden, reden wir erst Mal, wie wir über die
Sachen reden wollen, also...
Das würde bedeuten, dass 90% der Menschen schon aus der Diskussion
aussteigen, bevor sie begonnen hat und eine Diskussion unter z. B.
religiösen Menschen oder Mitgliedern einer Partei wäre dann überhaupt
nicht mehr kritisierbar. Schließlich könnten die vereinbarten
Grundsätze ja lauten "Die Partei/das heilige Buch hat immer recht"
usw.
Doch ist diese Auffassung nicht unbedingt falsch. Früher (Neuzeit) gab
es wirklich solche "Vorbereitungskurse", z. B. die der Ausbildung der
Jesuiten, aber auch an gewöhnlichen Schulen.
> Dass wir keine handlungsleitende Regel ohne regelverständnisleitende
> Metaregel verstehen?
Ein Witz:
A. "Du musst deine Begriffe präzise definieren"
B. "Definiere 'definieren', definiere 'präzise', definiere 'Begriff'"
Allerdings habe ich darüber schon mal nachgedacht:
Vielleicht gibt es Erkenntnisfortschritt nicht nur in eine Richtung,
also z. B. von bestimmten Grundsätzen hin zu abstrakteren Grundsätzen
und von diesen zurück zum Einzelfall, sondern auch hin zu besseren
Grundsätzen. Beispielsweise bei EUKLID, der ja als früher Meister der
Systematisierung zu gelten hat, gab es Beweisen, wo er auf Grundsätze
zurückgegriffen hat, die er vorher nicht als Axiome definierte.
> Dass wir von Gründen nur reden dürfen, wenn wir bei jedem Grund die Frage
> nach *seinem* Grund nicht nur grundsätzlich zulassen, wenn auch im
> Einzelfall begründet zurückweisen - sondern sie prinzipiell stellen?
Ich unterscheide hier immer gern zwei Ebenen.
Wenn ich jetzt z. B. als Schöffe vor Gericht sitzen würde (was Gott
bemühten möge) oder als Teilnehmer an einer Diskussionsveranstalltung,
so werde ich einfach klar und deutlich zur Sache sprechen und gewisse
Gepflogenheiten einfach voraussetzen.
Beim Philosophieren dagegen sollte alles *grundsätzlich* in Frage
gestellt werden. So wie es der alte Sokrates oder Descartes getan
haben. Wir versuchen bessere Rechtfertigungen zu finden um auf einen
besseren Fundament aufzubauen.
> Ich vermute, darin zeigt sich, daß wir nicht bei Null anfangen und uns unser
> Leben nur teilweise selbst ausdenken.
Hier klafft eine Lücke.
Wie kommst du von den empirischen Tatsachen zu den Diskussionsregeln
mit ihren merkwürdigen Status, irgendwo zwischen diskussionsethischer
Norm, voraussetzungslosen Axiom, Annahme und abstrakter empirischer
Gesetzmäßigkeit?
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Zur Hinterfragbarkeit von Diskussionsregeln: Meiner Meinung nach sollen sie dazu dienen, Diskussionen in geordnete Bahnen zu lenken und z.B. jeden zu Wort kommen zu lassen. Diesen Zweck können sie erreichen oder verfehlen. Sie können z.B. als Herrschaftsinstrument so gestaltet sein, dass die Möglichkeit freier Rede nur noch vorgetäuscht wird. Oder sie können auch einfach nur ohne böse Absicht unzweckmäßig sein. Wenn man das nicht möchte, müssen die Diskussionsregeln also hinterfragt werden dürfen.
Aber heißt das, daß wir keine Regel ohne vorherige Problematisierung anwenden dürfen? Und uns erst über die Regeln der Regeldiskussion verständigen müssen? Etc. etc.
Dass wir keine handlungsleitende Regel ohne regelverständnisleitende Metaregel verstehen?
Dass wir von Gründen nur reden dürfen, wenn wir bei jedem Grund die Frage nach *seinem* Grund nicht nur grundsätzlich zulassen, wenn auch im Einzelfall begründet zurückweisen - sondern sie prinzipiell stellen?
Dann könnten wir weder mit Regeln, noch mit Gründen etwas anfangen.
Können wir aber.
Ich vermute, darin zeigt sich, daß wir nicht bei Null anfangen und uns unser Leben nur teilweise selbst ausdenken.
Claus
-------- Ursprüngliche Nachricht --------Von: Rat Frag via Philweb <philweb(a)lists.philo.at> Datum: 10.11.17 17:12 (GMT+01:00) An: philweb <Philweb(a)lists.philo.at> Betreff: [Philweb] Regeln der Argumentation
[Philweb]
Hallo liebe Lesern,
wiedermal wende ich mich in Pseudo-Briefform an euch. Wir alle hier haben
ja irgendwann in irgendeinen Zusammenhang das *richtige* Argumentieren
gelernt. Diese Fähigkeit mag vielleicht in der Normalbevölkerung nicht
stark ausgeprägt sein (meine Einschätzung), aber sollte unter Philosophen
und eifrigen Lesern solcher Texte stark verbreitet sein.
Zu diesen Regeln des Argumentieren gehört unter anderem:
- Man soll es vermeiden, widersprüchliche Aussagen gleichzeitig zu
behaupten.
- Man soll zur Sache argumentieren. Es reicht nicht, z. B. nachzuweisen,
dass Einstein wahnnsinnig schlau ist, um ihn alles zu glauben. Einsteins
Behauptungen müssen selbst gründlich geprüft werden und wenn sie sich
bewahrheiten, so folgen wir Einstein.
- Man soll nicht so tun, als würde eine Prämisse A die Behauptung B
rechtfertigen, wenn B überhaupt nicht aus A folgt. (Wobei es hier Ausnahmen
zu geben scheint...)
Ich könnte jetzt noch diverses Rasierwasser ( ;-) ) und andere Dinge
anführen, meine aber, damit den Kanon halbwegs umrissen zu haben. Viele
Dinge sind ja auch umstritten, bzw. nicht allgemein geteilt.
Zum Beispiel das Beweispflicht-Gebot. Wer eine Behauptung aufstellt, der
muss sie auch beweisen, sonst ist sie (Irrtum vorbehalten) falsch.
Hitchens’ Rasiermesser: Was nicht begründet wird, darf ohne Begründung
verworfen werden.
Viele Menschen sagen jetzt aber, dass ein mangelnder Beweis nicht
rechtfertigt, einen Satz als falsch anzusehen. Beispielsweise - ich greif
mal willkürlich was raus - die Goldbachsche Vermutung ist bis heute nicht
bewiesen, dennoch gehen viele Mathematiker davon aus, dass sich ein Beweis
finden lassen müsste.
Wie Schopenhauer schreibt, kann ein Standpunkt trotz mangelnder oder sogar
irreführender Gründe dennoch richtig sein. Dass Gründe existieren
impliziert nämlich noch nicht, diese Gründe würden immer unmittelbar
vorliegen.
Nun gibt es bezüglich dieser Diskussionsregeln wiederum zwei Möglichkeiten:
Entweder sie sind selbst hinterfragbar (1) oder nicht (2).
Wenn (1) zutrifft, dann kann man über die Diskussionsregeln selbst eine
Diskussion starten und diese in Frage stellen. Wenn (2) zutrifft, dann ist
eben dies nicht möglich.
Gegen die Variante (2) spricht allerdings, dass einige Regeln offenbar erst
später eingeführt worden oder umstritten sind.
Die Variante (1) bringt uns zu dem Problem, nach wechlen Regeln wir
überhaupt Diskussionsregeln auswählen, bewerten sollen.
Kann man meinen Gedanken nachvollziehen oder schreibe ich Unsinn?
Gruß
Rat.
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http://lists.philo.at/listinfo/philweb
Hallo,
wenn ich die Seite "http://lists.philo.at/pipermail/philweb/" aufrufe,
so erhalte ich immer noch eine FEhlermeldung.
Anscheinend gibt es das Archiv nicht mehr.
Gruß
Rat.
Hallo Karl,
danke für die Erläuterungen. Zum Hintergrund meiner Frage: soweit ich das verstehe, gehört für Kant zu den notwendigen Bedingungen jeder Erfahrung Kausalität (ausserdem die Unterscheidung von Objekten und die Anschauungsformen von Raum und Zeit). Man kann aber doch durchaus etwas erleben oder auch "erfahren" (wenn man diesen Ausdruck hier nicht unpassend findet), ohne sich Gedanken über eventuelle Zusammenhänge der Objekte in Raum und Zeit zu machen. Will man aber aus dieser Erfahrung etwas lernen, also nicht immer wieder mit dem Kopf durch die gleiche Wand, sieht man sie nicht als Einzelfall, sondern als ewas, das sich voraussichtlich wiederholen wird. Kausales Denken bedeutet, Erfahrungen über Naturzusammenhänge zu sammeln und solche Erfahrungen zu sammeln oder zu machen bedeutet, kausal zu denken.
Das Wort Erfahrung ist in der heutigen Umgangssprache mehrdeutig. Dass Erfahrung in einem bestimmten Sinn ewas mit Erinnerung zu tun hat, würde mir helfen, zu verstehen, wieso sie nur unter der Voraussetzung der Kausalität möglich sein soll, während ich für die anderen Erfahrungsbedingungen diesen Bedeutungsanteil nicht unbedingt brauche.
Möglicherweise passt das dazu, dass Sinneswahrnehmungen für Kant noch keine Erfahrungen sind, sondern erst dadurch dazu werden, dass unser Verstand sie durch den Wolf dreht (und sie sich in den Formen von Raum und Zeit ordnen).
Das ist wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Unterscheidung an sich/für uns zu sehen, die zu der Frage führt, was welcher Sphäre zuzurechnen ist.
Wie sagte doch der Kant-Verehrer Lichtenberg sinngemäß: Es war von Herrn Kant nicht freundschaftlich gegen seine Leser gehandelt, seine Werke so zu verfassen, dass man sie studieren muss wie ein Rätsel der Natur.
Claus
-------- Ursprüngliche Nachricht --------Von: "K. Janssen" <janssen.kja(a)online.de> Datum: 02.11.17 06:02 (GMT+01:00) An: Philweb(a)lists.philo.at, Claus Zimmermann <Zimmermann.Claus(a)t-online.de> Betreff: Re: [Philweb] Verständnisfrage zu Kant
pre.cjk { font-family: "Nimbus Mono L",monospace; }p { margin-bottom: 0.25cm; line-height: 120%; }
Hallo Claus,
Der Begriff
„Erfahrung“ scheint im Alltagsbewusstsein sehr eindeutig im Sinne
von Erfahrung haben/nicht haben, E. sammeln etc. verankert zu
sein.
Aber schon ein Blick in die philosophische Literatur,
gleichermaßen
wie anderer Wissenschaftszweige zeigt, wie vielfältig und teils
divergent dieser Begriff ausgelegt ist.
Bezüglich Deiner
Frage kann man sich also auf Kant beschränken, was aber angesichts
seiner enorm ausufernden (wenngleich in strenger Systematik
angelegten) Behandlung dieser Thematik nicht leicht fällt und (für
mein Dafürhalten) auch nicht als einzig gültige Definition gelten
muss. Zumal, vermutlich seiner extrem komplexen Argumentation
geschuldet, durchaus Spuren von Inkonsequenz in seinen
Ausführungen
auszumachen sind, wie auch Goethe zu diesem Thema an ihm Kritik
übte:
„Als ich die
Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu
nutzen
suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre
schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs
engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die
er
selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete.“
(Goethe)
So sieht Kant eine
Möglichkeit darin, sich per spekulativer Vernunft über die
Erfahrungsgrenze (wir würden es heute wohl Erfahrungshorizont
nennen) hinaus zu wagen, also gewissermaßen durch Eingrenzung
unseres Vernunftgebrauchs die Grenzen der Sinnlichkeit zu
erweitern.
Ganz gemäß der Annahme des Aristoteles (nihil est in intellectu,
nisi quod antea fuerit in sensu).
Nichts von
eingegrenztem Vernunftgebrauch findet sich dann aber in Kant‘s
Herangehensweise in seiner Frage nach Grundlage und Bedingung von
Erfahrungen, wenn er postuliert, dass alle Erkenntnis mit der
Erfahrung beginnt; Das Erkennen selbst aber Formen enthält, die
erst
die Erfahrung konstituieren:
„Erfahrung ist
ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand
hervorbringt,
indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet..“
Das „Synthetische
der Erkenntnis“ ist das Wesentliche der Erfahrung. Gemäß dieser
Maxime baut sich das Schema seiner Erkenntnistheorie auf, wonach
(grob skizziert) zunächst über unsere Wahrnehmung der Sinne
(sinnliche Anschauung, transzendentale Ästhetik) gewonnene -
Eindrücke zu qualifizieren und einzuordnen sind; denn solchermaßen
erworbene Erkenntnis bliebe „blinde Anschauung“ ohne
Urteilsbildung und Begriffszuordnung sowie entsprechende
Schlussfolgerung. Erstere erfordern analytisches Vermögen (Kant‘s
transzendentale Analytik, „Vermögen der Erkenntnis überhaupt“),
gemeinhin Verstand als explizite Gehirnfunktion.
Schlussfolgerungen
ziehen (sowie Trugschlüsse vermeiden) erfordert logisches Vermögen
(Kant‘s transzendentale Dialektik: kategorische, hypothetische
oder
disjunktive Vernunftschlüsse), gemeinhin Vernunft.
Im Zusammenspiel
von
Verstand und Vernunft entwickelt sich die „höchste Einheit des
Denkens“ als Quelle unserer Erkenntnis. Um diese zu gewähren,
müssen sich alle Erfahrungsobjekte nach den Gesetzen des
Verstandes
richten. Erfahrung ist Erkenntnis des Empirischen.
Soweit habe ich das
erst einmal (vornehmlich zu meiner Orientierung) zu Kant‘s
Begrifflichkeit von Erfahrung und Erkenntnis „zusammengetragen“.
Wir können jetzt versuchen, Deine Frage in einen Bezug zu diesen
Kant‘schen Schemata zu bringen:
a) „ Wenn
Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fragt
- ist
dann mit "Erfahrung" alles gemeint, was einem irgendwie
zustößt und gleich wieder vergessen wird?
Alles, was einem
zustößt, nehmen wir demnach zunächst über unsere Sinne auf
(Anschauung), ordnen Begriffe zu (soweit im Gedächtnis vorhanden)
und nehmen eine Beurteilung vor (entspr. Verstand und hinreichende
Urteilskraft vorausgesetzt). Sind nun Begriff und Urteil
verfügbar,
ist es an der Vernunft, entsprechende Schlüsse zu ziehen. Am Ende
dieses Wahrnehmungs- und Denkprozesses sollte aus der Erkenntnis
des
Zugestoßenen Erfahrung resultieren. Ob diese Erfahrung sogleich
wieder vergessen wird bzw. zu vergessen ist, wird eher als Frage
an (Tiefen)Psychologen und ggf. an Neurophysiologen und
Hirnforscher zu
richten sein. Ein traumatisches Erlebnis als Zugestoßenes wird
(erfahrungsgemäß!) nicht ohne weiteres vergessbar sein. Hingegen
ein häufig wiederholtes und demnach bereits im „Erfahrungsschatz“
verankertes Zugestoßenes, wird tatsächlich schnell (zu) vergessen
sein. Eine (weitere) Erfahrung ist es sicher allemal (und wird in
diesem Fall „zu den Akten“ gelegt, mit welchem neuronalen Aufwand
an Gedächtnisleistung immer).
b)
Oder wird es eine
Erfahrung erst dadurch, dass man sich dabei sagt - oder
entsprechend handelt: aha, so ist das also, das merke ich
mir für
die Zukunft. In diesem Sinn spricht man ja auch von
Erfahrungen haben
mit.../erfahren sein.
Falls es im zweiten Sinn gemeint sein sollte, wäre die oberste Bedingung nicht das Gedächtnis?
Der Ablauf des Wahrnehmungs- und Denkprozesses ist wie unter a)
beschrieben identisch. Entspricht aber - wie der Frage zugefügt -
das Zugestoßene definitiv einer außergewöhnlichen Wahrnehmung
(z.B. schmerzauslösend – und somit ein "aha, so ist das also"
evoziert), wird deren
Beurteilung und die dementsprechende (Ent)Schlussfassung so
ausfallen, dass man dieses Ereignis nicht „vergessen“ wird und
als Erfahrung eine herausragende „Platzierung“ im Gedächtnis
einnehmen wird. Somit würde ich meinen, dass geradewegs Fall b)
eine
dediziert ausgeprägte Gedächtnisleistung bewirkt/erfordert.
Sollte ich Deine
Frage (hoffentlich) richtig verstanden haben, wäre das meine
Antwort
darauf. So sehr sicher bin ich mir allerdings nicht. Dann wird
sich
ja eine Richtigstellung hier (ein)finden.
Bester Gruß!
Karl
Am 31.10.2017 um 14:51 schrieb Claus
Zimmermann via Philweb:
[Philweb]
Wenn Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fragt - ist dann mit "Erfahrung" alles gemeint, was einem irgendwie zustößt und gleich wieder vergessen wird? Oder wird es eine Erfahrung erst dadurch, dass man sich dabei sagt - oder entsprechend handelt: aha, so ist das also, das merke ich mir für die Zukunft. In diesem Sinn spricht man ja auch von Erfahrungen haben mit.../erfahren sein.
Falls es im zweiten Sinn gemeint sein sollte, wäre die oberste Bedingung nicht das Gedächtnis?
Claus
_______________________________________________
Philweb mailing list
Philweb(a)lists.philo.at
http://lists.philo.at/listinfo/philweb
Wenn Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fragt - ist dann mit "Erfahrung" alles gemeint, was einem irgendwie zustößt und gleich wieder vergessen wird? Oder wird es eine Erfahrung erst dadurch, dass man sich dabei sagt - oder entsprechend handelt: aha, so ist das also, das merke ich mir für die Zukunft. In diesem Sinn spricht man ja auch von Erfahrungen haben mit.../erfahren sein.
Falls es im zweiten Sinn gemeint sein sollte, wäre die oberste Bedingung nicht das Gedächtnis?
Claus