Hallo Karl,
danke für die Erläuterungen. Zum Hintergrund meiner Frage: soweit ich das verstehe, gehört
für Kant zu den notwendigen Bedingungen jeder Erfahrung Kausalität (ausserdem die
Unterscheidung von Objekten und die Anschauungsformen von Raum und Zeit). Man kann aber
doch durchaus etwas erleben oder auch "erfahren" (wenn man diesen Ausdruck hier
nicht unpassend findet), ohne sich Gedanken über eventuelle Zusammenhänge der Objekte in
Raum und Zeit zu machen. Will man aber aus dieser Erfahrung etwas lernen, also nicht immer
wieder mit dem Kopf durch die gleiche Wand, sieht man sie nicht als Einzelfall, sondern
als ewas, das sich voraussichtlich wiederholen wird. Kausales Denken bedeutet, Erfahrungen
über Naturzusammenhänge zu sammeln und solche Erfahrungen zu sammeln oder zu machen
bedeutet, kausal zu denken.
Das Wort Erfahrung ist in der heutigen Umgangssprache mehrdeutig. Dass Erfahrung in einem
bestimmten Sinn ewas mit Erinnerung zu tun hat, würde mir helfen, zu verstehen, wieso sie
nur unter der Voraussetzung der Kausalität möglich sein soll, während ich für die anderen
Erfahrungsbedingungen diesen Bedeutungsanteil nicht unbedingt brauche.
Möglicherweise passt das dazu, dass Sinneswahrnehmungen für Kant noch keine Erfahrungen
sind, sondern erst dadurch dazu werden, dass unser Verstand sie durch den Wolf dreht (und
sie sich in den Formen von Raum und Zeit ordnen).
Das ist wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Unterscheidung an sich/für uns zu sehen,
die zu der Frage führt, was welcher Sphäre zuzurechnen ist.
Wie sagte doch der Kant-Verehrer Lichtenberg sinngemäß: Es war von Herrn Kant nicht
freundschaftlich gegen seine Leser gehandelt, seine Werke so zu verfassen, dass man sie
studieren muss wie ein Rätsel der Natur.
Claus
-------- Ursprüngliche Nachricht --------Von: "K. Janssen"
<janssen.kja(a)online.de> Datum: 02.11.17 06:02 (GMT+01:00) An:
Philweb(a)lists.philo.at, Claus Zimmermann <Zimmermann.Claus(a)t-online.de> Betreff: Re:
[Philweb] Verständnisfrage zu Kant
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Hallo Claus,
Der Begriff
„Erfahrung“ scheint im Alltagsbewusstsein sehr eindeutig im Sinne
von Erfahrung haben/nicht haben, E. sammeln etc. verankert zu
sein.
Aber schon ein Blick in die philosophische Literatur,
gleichermaßen
wie anderer Wissenschaftszweige zeigt, wie vielfältig und teils
divergent dieser Begriff ausgelegt ist.
Bezüglich Deiner
Frage kann man sich also auf Kant beschränken, was aber angesichts
seiner enorm ausufernden (wenngleich in strenger Systematik
angelegten) Behandlung dieser Thematik nicht leicht fällt und (für
mein Dafürhalten) auch nicht als einzig gültige Definition gelten
muss. Zumal, vermutlich seiner extrem komplexen Argumentation
geschuldet, durchaus Spuren von Inkonsequenz in seinen
Ausführungen
auszumachen sind, wie auch Goethe zu diesem Thema an ihm Kritik
übte:
„Als ich die
Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu
nutzen
suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre
schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs
engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die
er
selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete.“
(Goethe)
So sieht Kant eine
Möglichkeit darin, sich per spekulativer Vernunft über die
Erfahrungsgrenze (wir würden es heute wohl Erfahrungshorizont
nennen) hinaus zu wagen, also gewissermaßen durch Eingrenzung
unseres Vernunftgebrauchs die Grenzen der Sinnlichkeit zu
erweitern.
Ganz gemäß der Annahme des Aristoteles (nihil est in intellectu,
nisi quod antea fuerit in sensu).
Nichts von
eingegrenztem Vernunftgebrauch findet sich dann aber in Kant‘s
Herangehensweise in seiner Frage nach Grundlage und Bedingung von
Erfahrungen, wenn er postuliert, dass alle Erkenntnis mit der
Erfahrung beginnt; Das Erkennen selbst aber Formen enthält, die
erst
die Erfahrung konstituieren:
„Erfahrung ist
ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand
hervorbringt,
indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet..“
Das „Synthetische
der Erkenntnis“ ist das Wesentliche der Erfahrung. Gemäß dieser
Maxime baut sich das Schema seiner Erkenntnistheorie auf, wonach
(grob skizziert) zunächst über unsere Wahrnehmung der Sinne
(sinnliche Anschauung, transzendentale Ästhetik) gewonnene -
Eindrücke zu qualifizieren und einzuordnen sind; denn solchermaßen
erworbene Erkenntnis bliebe „blinde Anschauung“ ohne
Urteilsbildung und Begriffszuordnung sowie entsprechende
Schlussfolgerung. Erstere erfordern analytisches Vermögen (Kant‘s
transzendentale Analytik, „Vermögen der Erkenntnis überhaupt“),
gemeinhin Verstand als explizite Gehirnfunktion.
Schlussfolgerungen
ziehen (sowie Trugschlüsse vermeiden) erfordert logisches Vermögen
(Kant‘s transzendentale Dialektik: kategorische, hypothetische
oder
disjunktive Vernunftschlüsse), gemeinhin Vernunft.
Im Zusammenspiel
von
Verstand und Vernunft entwickelt sich die „höchste Einheit des
Denkens“ als Quelle unserer Erkenntnis. Um diese zu gewähren,
müssen sich alle Erfahrungsobjekte nach den Gesetzen des
Verstandes
richten. Erfahrung ist Erkenntnis des Empirischen.
Soweit habe ich das
erst einmal (vornehmlich zu meiner Orientierung) zu Kant‘s
Begrifflichkeit von Erfahrung und Erkenntnis „zusammengetragen“.
Wir können jetzt versuchen, Deine Frage in einen Bezug zu diesen
Kant‘schen Schemata zu bringen:
a) „ Wenn
Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fragt
- ist
dann mit "Erfahrung" alles gemeint, was einem irgendwie
zustößt und gleich wieder vergessen wird?
Alles, was einem
zustößt, nehmen wir demnach zunächst über unsere Sinne auf
(Anschauung), ordnen Begriffe zu (soweit im Gedächtnis vorhanden)
und nehmen eine Beurteilung vor (entspr. Verstand und hinreichende
Urteilskraft vorausgesetzt). Sind nun Begriff und Urteil
verfügbar,
ist es an der Vernunft, entsprechende Schlüsse zu ziehen. Am Ende
dieses Wahrnehmungs- und Denkprozesses sollte aus der Erkenntnis
des
Zugestoßenen Erfahrung resultieren. Ob diese Erfahrung sogleich
wieder vergessen wird bzw. zu vergessen ist, wird eher als Frage
an (Tiefen)Psychologen und ggf. an Neurophysiologen und
Hirnforscher zu
richten sein. Ein traumatisches Erlebnis als Zugestoßenes wird
(erfahrungsgemäß!) nicht ohne weiteres vergessbar sein. Hingegen
ein häufig wiederholtes und demnach bereits im „Erfahrungsschatz“
verankertes Zugestoßenes, wird tatsächlich schnell (zu) vergessen
sein. Eine (weitere) Erfahrung ist es sicher allemal (und wird in
diesem Fall „zu den Akten“ gelegt, mit welchem neuronalen Aufwand
an Gedächtnisleistung immer).
b)
Oder wird es eine
Erfahrung erst dadurch, dass man sich dabei sagt - oder
entsprechend handelt: aha, so ist das also, das merke ich
mir für
die Zukunft. In diesem Sinn spricht man ja auch von
Erfahrungen haben
mit.../erfahren sein.
Falls es im zweiten Sinn gemeint sein sollte, wäre die oberste Bedingung nicht das
Gedächtnis?
Der Ablauf des Wahrnehmungs- und Denkprozesses ist wie unter a)
beschrieben identisch. Entspricht aber - wie der Frage zugefügt -
das Zugestoßene definitiv einer außergewöhnlichen Wahrnehmung
(z.B. schmerzauslösend – und somit ein "aha, so ist das also"
evoziert), wird deren
Beurteilung und die dementsprechende (Ent)Schlussfassung so
ausfallen, dass man dieses Ereignis nicht „vergessen“ wird und
als Erfahrung eine herausragende „Platzierung“ im Gedächtnis
einnehmen wird. Somit würde ich meinen, dass geradewegs Fall b)
eine
dediziert ausgeprägte Gedächtnisleistung bewirkt/erfordert.
Sollte ich Deine
Frage (hoffentlich) richtig verstanden haben, wäre das meine
Antwort
darauf. So sehr sicher bin ich mir allerdings nicht. Dann wird
sich
ja eine Richtigstellung hier (ein)finden.
Bester Gruß!
Karl
Am 31.10.2017 um 14:51 schrieb Claus
Zimmermann via Philweb:
[Philweb]
Wenn Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fragt - ist dann mit
"Erfahrung" alles gemeint, was einem irgendwie zustößt und gleich wieder
vergessen wird? Oder wird es eine Erfahrung erst dadurch, dass man sich dabei sagt - oder
entsprechend handelt: aha, so ist das also, das merke ich mir für die Zukunft. In diesem
Sinn spricht man ja auch von Erfahrungen haben mit.../erfahren sein.
Falls es im zweiten Sinn gemeint sein sollte, wäre die oberste Bedingung nicht das
Gedächtnis?
Claus
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