Am 14.12.20 um 13:04 schrieb Ingo Tessmann:
"Was wäre
wenn alles Denken ein Reduzieren von kognitiven Dissonanzen wäre?"
Hi Joseph,
das hatte ich mich auch schon wiederholt gefragt. Bisher sind mir aber keine hinreichend
umfangreichen Untersuchungen dazu bekannt geworden. Sie müssten ja nicht nur das
Alltagsdenken, sondern auch die Künste und Wissenschaften (wenn nicht gar die Religionen)
umfassen und sich wie von selbst aus der Evolutionstheorie ergeben.
Allein zu hören, dass schon du und vermutlich viele andere sich diese
Frage auch stellten, hat mich riesig gefreut. Eine halbe Flasche
getrunken, aber ich liege nicht in einer Badewanne. Dein zweiter Satz
geht in Richtung des Programms ab von der Taxonomie zur Kladistik, wenn
ich dich verstehe, dann bist du schon auf der zweiten Stufe. Und dann
wären alle Bereiche des Wissens durchsät von nutzlosen und historischen
Wörtern und Sätzen, die zum Großteil über Bord geworfen werden können.
Die Spreu vom Weizen zu trennen geht hier nicht, es muss schon "ein
wenig" bewiesen werden.
Nebenbei gefragt: "keine umfangreiche Untersuchungen" - kannst du
Untersuchungen angeben, die diese Eigenschaft nicht haben?
Der Vermeidung kognitiver Dissonanz im Denken
entspricht die Widerspruchsfreiheit der Formalismen und dem menschlichen Irren entsprechen
die Fehlerraten in der Technik und die Wahrscheinlichkeitsmaße in den quantitativen
Experimentalwissenschaften.
Auch hier triffst du den Nagel auf den Kopf. Ich bin zudem ständig auf
der Suche nach den Fehlern. Zum Beispiel: Wo war der Fehler vor Alfred
Wegener? Wo war der Fehler vor Albrecht Ludwig Berblinger. Glaubten etwa
zu viele an das Falsche oder war die Wahrscheinlichkeit im Spiel, so wie
es Sokrates im Phaidros-Dialog des Plato behauptete? Der praktische
Fehler des Berblinger ist ja bekannt, nur wo war der Fehler vor ihm, der
machte, dass niemand glauben konnte, man könnte fliegen?
<https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwiwzt21lc7tAhUz5OAKHUDkCVUQFjAAegQIAhAC&url=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2Fwiki%2FAlbrecht_Ludwig_Berblinger&usg=AOvVaw0FDJwBtymZsY1V2gWp-PDQ>
Es geht oft um Wahrscheinlichkeit, und kognitive Dissonanz ist
vermutlich in Korrelation mit Opportunismus. Was denkst du dazu?
Theorien verstanden nach dem Vorbild der Physik seit
Galilei sind natürlich nicht falsifizierbar, weil sie sich jeweils auf einen
eingeschränkten Geltungs- und Gültigkeitsbereich beziehen. Insofern ihre Folgerungen nicht
als Allsätze formuliert werden, sondern lediglich Existenzbehauptungen darstellen, sind
sie aber formal wie experimentell beweisbar.
Ich glaube dir, in dem Sinne, dass jeweils für die Kenntnisse vor
Galilei die dann aktuelle Theorie mit den vielen Schnörkeln der Planeten
korrekt war. Gerade das geht in Richtung Historizität wie beim
Kladismus. Und obwohl die vorherige Theorie nicht falsifizierbar ist,
sondern Elemente davon, geht das in Richtung "Erweiterung" wie dein
folgender Satz es so schön beschreibt, wenn ich falsch gedacht habe,
freue ich mich über eine Korrektur.
Die Gravitationstheorien von Galilei über Newton und
Einstein bis hin in die noch spekulativen Gefilde der Quantengravitation haben Galilei
lediglich erweitert, nicht widerlegt. Das gleiche gilt für die Quantentheorien, ausgehend
von Maxwell und Boltzmann über Heisenberg, Schrödinger, Dirac, Feynman bis hinein ins
Standardmodell.
Ich glaube du bist jedoch so wie ich abgekommen von der Frage der Grenze zwischen Wissen
und Ideologie und der zwischen z.B. politischer Überzeugung und Ideologie, Glaube und
Sekte, Glaube und Ideologie.
Ich hoffe auf noch weitere gute Antworten und Kritik zu meinen anderen Bemerkungen, auch
von anderen.
Noch was, was nichts mit Obigem zu tun hat, zu Helen Keller. Sie sagte sehr deutlich, was
bei ihr geschah, und das geschieht vermutlich allen Kindern. Der Unterschied zwischen ihr
und anderen Kindern war, dass sie diese Zeit nachher genau beschreiben konnte. Ihr wurde
bei verschiedenen Erlebnissen das Wort "Wasser" gesagt. Ein Unbefangener, der
der Sprache schon mächtig gewesen wäre, hätte gesagt: Warum dasselbe Wort bei so vielen
verschiedenen Situationen? Helen Keller konnte so noch nicht denken, aber sie hörte
ständig dasselbe Wort für sie verschiedene Sachen und ärgerte sich. Hier kann gesagt
werden: Sie hatte viele Verbindungen, vom Wort zum Inneren A, vom Wort zum Inneren B bei
einer anderen Situation, aber keine vom Inneren A zum Inneren B, und als diese Verbindung
sich bildete, begann die Suche nach dieser inneren Verbindungsmöglichkeit in vielen
anderen Situationen, verursacht durch den großen Aha-Effekt. Wenn der Betrachter nun
sagen würde: "Jetzt hat sie einen Begriff von Wasser.", wäre das sekundär und
überwiegend falsch. Dem spricht nicht entgegen, dass Helen Keller gesagt hat oder hätte:
"Von da an hatte ich einen Begriff von Wasser, jetzt weiß ich was Wasser ist, und
vorher hatte ich diesen Begriff so nicht." Diese Aussage wäre dann nur eine
Verbindung vom Aha-Erlebnis zu dem Wort "Begriff", wie vorhin von einem
speziellen Erlebnis zum Wort Wasser, es wäre nichts Besonderes gewesen. Das ist doch
verständlich, oder nicht?
Gruß
Joseph