Moin Karl,
es geht mir nicht um Wortklauberei, sondern philosophisch um das Verständnis von
Wissenschaft, um Wissenschafts- und Literaturtheorie im Kontext der Zeit (siehe Betreff).
In den Ingenieur- und Naturwissenschaften wird Mathematik in der Regel in Extrakursen
gelehrt bspw. in Mathe für Ingenieure oder Physiker. Zu meiner Zeit konnten Physik-Studis
die Kurse auch bei den Mathematikern belegen. Aber grundsätzlich ist Mathematik primär
keine Hilfswissenschaft, sie wird lediglich, wie viele andere Wissenschaften auch,
sekundär als eine solche häufig benutzt.
Und so komme ich zur Zweckrationalität. Du hattest ingenieurmäßig Geräte und Algorithmen
erstellt und dabei auch andere Wissenschaften und Technologien benutzt. Gerätebau oder
Reparatur sind zweckgebunden im Wirtschaftssystem hierzulande. Wir hatten hier ja einmal
Algorithmen für den Saugroboter behandelt. Ein anderes Beispiel wäre die Wärmepumpe, bei
der es sich um angewandte Physik handelt. Technische Informatik und -Thermodynamik gehören
in die Ingenieurwissenschaften, Informatik und Physik genügen sich aber bereits selbst, da
ihre Zwecke andere sind.
Kommen wir doch zur immer wieder verwirrenden wie faszinierenden Philosophie der Zeit
zurück. Ich hatte ja auf den Zauberberg und auf die Keine-Grenzen-Hypothese bei Hawking
verwiesen. Bei Mann geht es um die zyklische und die lineare Zeit, um Zeitlichkeit und
ihre Aufhebung, wobei der Schriftsteller sich besonders auf Kant, Schopenhauer, Nietzsche
und — Wagner bezieht. „Zum Raum wird hier die Zeit“, lässt der ja im Parsifal metaphorisch
verlauten. Mathematisch geht Hawking vor, indem er die Zeit komplexifiziert, d.h. das
invariante Linienelement im Minkowskiraum ds^2 = dx^2 + dy^2 + dz^2 - dt^2 wird mittels
imaginärer Zeit gemäß w = i t zu ds^2 = dx^2 + dy^2 + dz^2 + dw^2. In diesem komplexen
euklidischen Raum gibt es keinen Anfang mehr. Die Zeit ist gleichsam aufgehoben — im
Kosmos wie im Berghof.
An den Davoser Hochschulkursen nahm 1928 auch Einstein teil und 1929 kam es zu einer
Disputation zwischen Cassirer und Heidegger. Mann umschreibt den Ingenieur Castorp
zunächst ja bloß als dummen Jungen, der gelegentlich in seinem Fachbuch „Ocean Steamships“
liest und erst im Austausch mit dem Humanisten Settembrini und dem Jesuiten Naphtha an
Profil gewinnt. Im Gegensatz zu seiner Frau hatte Mann mit Mathematik nichts am Hut. Hätte
er sich von ihr beraten lassen, hätte er den Zusammenhang zwischen linearer und zyklischer
Zeit bis auf Cardano zurückführen können. Wir haben hier mehrfach die Euler-Formel
behandelt, nach der ja die komplexe Exponentialfunktion die imaginäre Achse auf den
Einheitskreis abbildet. Dabei bilden die Kreisfunktionen ja ein vollständiges
Funktionensystem, dessen Vollständigkeitsbeweis erst die Fourietransformation begründet.
Ich hätte den Ingenieur jedenfalls facettenreicher zwischen den beiden Streithähnen
agieren lassen, anstatt ihn mit dem Berghof lediglich einem Ozeanriesen ähnlich durch die
Zeit treiben zu lassen.
IT
Am 24.11.2024 um 23:24 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
das entspricht hier genau der von mir öfter vorgebrachten Kritik an sinnloser
Wortklauberei. Auf mein Studienfach und Arbeitsgebiet bezogen, hatte ich mit „purer
Mathematik“ selbstredend nicht die „reine“ Mathematik mit ihren Sätzen und Beweisen (die
mich schon in der Oberstufe und mathem. Vorsemester genervt haben) gemeint, sondern ich
bezog das im Kontext des Studienfachs Nachrichtentechnik/IT und auf die berufliche
Tätigkeit als NT/IT- Ingenieur, die natürlich durch angewandte, i.W. numerische Mathematik
bestimmt ist. Das wird bei Dir als „Bio-Ingenieur nicht anders gewesen sein, wie Du es ja
auch geschrieben hast.
Davon abgesehen, dass im math. Vorsemester auch „pure Mathematik“ gelehrt wurde/wird
(ich also auch dort mit dem Zeug konfrontiert wurde), wollte ich lediglich zum Ausdruck
bringen, dass NT/IT nichts als (Wortpuristen würden differenzierter sagen „kaum anderes
als“) als Mathematik und eben Physik ist. Was anderes als das sind denn z.B. Ortskurven,
Fourierreihen usf.?
Um das hier abzuschließen, möchte ich nochmal auf das Motiv meiner diesbezüglichen
Einlassung zurückkommen. Es ging mir in diesem Diskurs lediglich darum, aufzuzeigen, dass
Mathematik eben nicht eine über allem stehende, alles erklärende Wissenschaft, quasi „das
Maß aller Dinge“ ist, sondern als sog. Hilfswissenschaft das Grundgerüst vornehmlich der
naturwissenschaftlichen und natürlich auch vieler anderer Studiengänge darstellt, wobei
Studierende benannter Fächer bereits im Grundstudium nahezu dieselbe Ausbildung wie die
Hauptfach-Mathematiker erhalten.