Hi KJ,
ich hatte mit Bezug auf die von Thomas als rein bezeichnete Mathematik an Joseph
geschrieben: „Es gibt reine und angewandte Mathematik. Womöglich hat Thomas die Angst der
reinen vor dem Schmutz der angewandten Mathematiker parodieren wollen. Ich assoziierte mit
dem Schmutz die Angst der Spießbürger vor der natürlichen Unsauberkeit der Welt. Zudem
kamen mir die „moralischen Module" Fürsorge, Fairness, Freiheit sowie Loyalität,
Autorität, Reinheit in den Sinn; den Grundbedingungen für Demokratie und Republik sowie
Religion und Faschismus.“
Wie konntest Du mich nur so missverstehen? Ich bewundere die reine, schätze aber auch die
angewandte Mathematik; insofern hielt ich Thomasens Bemerkung für parodistisch. Anders
als den Spießbürger ängstigt mich nicht die natürliche Unsauberkeit der Welt und von
religiöser wie faschistischer Reinheit halte ich auch nichts.
Ich habe drei berufsqualifizierende Abschlüsse: Technischer Zeichner, Bioingenieur
(Ing.-grad) und Diplom-Physiker. Und von Cardano hörte ich erstmals als Kind, als mein
Vater mir die Kardanwelle erklärte. Dass der Name aber auf den herausragenden
Universalgelehrten verwies, erfuhr ich erst im Nebenfach „Geschichte der
Naturwissenschaften". Beruflich arbeitete ich hauptsächlich im Übergangsbereich
zwischen angewandter Informatik und numerischer Mathematik.
Dass ich gerne die reine Mathematik lobe, liegt daran, dass sie häufig verächtlich
behandelt und immer wieder bloß nach irgendeinem Nutzen gefragt wird. Das betrifft für
mich Wissenschaft und Kunst allgemein. Um den Nutzen geht es in Alltag und Politik,
Wirtschaft und Technik; in Wissenschaft und Kunst geht es um Wahrheit und Schönheit,
Erkenntnis und Provokation. Übergreifend dabei ist das Spielen, bei dem Cardano ja auch
die von ihm so genannten fiktiven Zahlen fand. Z.B. finde zwei Zahlen, deren Summe 10 und
deren Produkt 40 ergibt! D.h. x (10 - x) = 40. Lösung: x = 5 + sqrt( - 15) oder x = 5 -
sqrt( - 15) . Vergegenwärtige Dir einmal, was aus dieser Zahlenspielerei alles geworden
ist!
In der Physik wird bspw. mit imaginärer Zeit und komplexen Wahrscheinlichkeitsamplituden
gerechnet. Mathematik ist für mich nicht das Wichtigste, aber ebenso wichtig wie die
Umgangssprache. Und so wie es Sprachkünstler gibt, denen es egal ist, ob sie von vielen
gelesen werden, gibt es auch reine Mathematiker, die sich um keinerlei Anwendung scheren,
sondern allein ihrer Kreativität folgen, wenn sie sich bspw. an einem Beweis der
Riemannschen Vermutung versuchen.
Die „göttliche Mutter“ können wir beiseite lassen, aber vielleicht die Rolle der
imaginären Zeit verfolgen in „Stephen Hawkings Keine-Grenzen-Hypothese. Eine
religionsphilosophische Analyse“:
https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/9278554
Da vor 100 Jahren „Der Zauberberg“ erschien, böte es sich an, auch das Zeitverständnis in
der Literatur mit einzubeziehen: „Zeitreflexion und Zeitlichkeitskonstruktion: Eine
Analyse von R. M. Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Th. Manns Der
Zauberberg und R. Musils Der Mann ohne Eigenschaften“:
https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00050799
In den Buddenbrooks behandelte Mann ja den Untergang einer Familie, im Zauberberg den
Untergang des Bürgertums und im Doktor Faustus den Untergang des Deutschtums. Letzteres
scheint gegenwärtig wieder vermehrt beschworen zu werden.
IT
Am 18.11.2024 um 23:18 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Mag sein, dass ich mal von Cardano gehört oder gelesen habe, erinnern kann ich es nicht
mehr. Sein Wirken ist ja nun schon einige Zeit her (erstaunlich, wie oft man den
Zeitbegriff benutzt); So habe ich mir jetzt den korrespondierenden Wikipedia-Eintrag
angesehen und las dort von einer bewundernswerten Vita. Diesen herausragenden Menschen
auch nur in die Nähe von Erbsenzählern zu bringen, wäre sehr wohl unredlich (milde
ausgedrückt), zumal ich meinerseits diesen Begriff durchaus negativ besetzt habe.
Es gibt ja auch die positive Seite dieser Wesensart, denn wer wollte bestreiten, dass
Exaktheit, Prinzipientreue oder Gewissenhaftigkeit und Ethik fundamentale Elemente unserer
Gesellschaft sind. Natürlich stehen diese einer unbegrenzt neoliberalen Gesinnung, die man
zum gesellschaftlichen Ideal erheben will, entgegen.
Die umgangssprachliche Diktion von Erbsenzählerei ist zumeist abwertend im Sinne von
übersteigerter Genauigkeit, Kleinlichkeit oder auch Geiz. Ich bezog mich hinsichtlich
Erbsenzählerei auf einen Deiner Beiträge, wo vom „Schmutz der angewandten vs. der reinen
Mathematik“ die Rede war.
Hast Du nicht auch ein ingenieurwissenschaftliches Fachgebiet studiert? Dann solltest Du
doch um den Wert der angewandten Mathematik wissen! Jedes auf pragmatische Nutzung
zugeschnittene Integral ist für diesen Berufszweig hilfreicher, als eine unendliche Schar
von Integralen.
In diesem Zusammenhang wird interessant sein, welche Rolle die KI in den angewandten
Wissenschaften spielen wird. Dazu werden wir wohl noch öfter hier schreiben.
Also nochmal kurz gefasst: Mich hat Dein (auf mich arrogant wirkender) Hinweis auf die
reine Mathematik genervt, zumal dieses Wissensgebiet umfassend erfasst und erklärt ist,
nicht jedoch die Möglichkeiten der angewandten Mathematik, insbes. in Bezug auf
vornehmlich rechnergesteuerte, selbstlernende Algorithmen.
So empfand ich Josephs Frage durchaus angebracht, ob denn diesbezüglich außerhalb der
„absoluten Reinheit“ alles Schmutz sei. Dieses Deiner Interpretation folgend und dem
scheinbar untrüglichen Eindruck, Mathematik sei für Dich das Wichtigste.
Meiner Ansicht nach ist sie das sicher nicht, zu lebensnah sind Deine Exkursionen in die
LG-Politik oder auch in lebensfrohe Bereiche, wie etwa die Pornographie (Dein Plädoyer für
die Freigabe im Schulunterricht). Hier geht es Dir offensichtlich nicht mehr um die
absolute Reinheit. Nebenbei bemerkt, mir auch nicht, denn alles andere wäre pure Heuchelei
oder schlichtweg lebensfremd.
Aber nun nochmal in‘s Reich der Mathematik. Ihre Bedeutung als Hilfswissenschaft ist das
eine, ganzheitliches Herangehen an die Fragen von Mensch (als geistiges Wesen) und Natur,
sowie die sie übersteigenden Phänomene, wie es in den Geisteswissenschaften betrieben
wird, ist ein ganz anderes, eben allumfassende Wissenschaft.
Deshalb schrieb ich: Ein Hoch auf die Mathematik. Doch diese als das absolute Maß der
Dinge hochzuhalten, dafür reicht sie als Hilfswissenschaft nicht hin. Auch nicht die sog.
reine Mathematik, denn was soll in diesem Kontext ein „Reinsein“ bedeuten. Jungfräulich
etwa, wie die göttliche Mutter? Sollten wir das wirklich in diesem Forum diskutieren oder
doch eher beides schlichtweg als Abstraktum beiseite legen?
KJ