Hallo zusammen,
mich langweilen bekanntlich die ständigen Wiederholungen besonders zur Religion hier in
der Liste. Wenigstens hat sich der neue Bundeskanzler bei seinem Amtseid nicht auf eine
Mythengestalt bezogen, will vielmehr aufklärungsorientiert mehr Fortschritt wagen.
Vielleicht ergeben sich aus dem Ansatz sogar neue über die Kennzeichnung als Richtungswahl
oder Aufbruch hinaus gehende Gesichtspunkte anstelle der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Adenauers Motto war: Keine Experimente! Brandt wollte mehr Demokratie wagen und Scholz
will mehr Fortschritt wagen. Aber was steht zum Fortschritt im Koalitionsvertrag des
Bündnisses für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit? Dazu einige Zitate:
„Notwendige Modernisierung bei unterschiedlichen Sichtweisen. Wir machen aus
technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt. Dabei ist uns bewusst: Ein digitaler
Aufbruch, der unsere Werte, die digitale Souveränität und einen starken
Technologiestandort sichert, gelingt nur in einem fortschrittlichen europäischen Rahmen.
Wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden. Eine innovative Gesundheitswirtschaft
ist Grundlage des weiteren medizinischen Fortschritts und birgt gleichzeitig viel
Potenzial für Beschäftigung und Wohlstand. Wir wollen Europa zu einem Kontinent des
nachhaltigen Fortschritts machen und international vorangehen. Durch europäische Standards
setzen wir Maßstäbe für globale Regelwerke.“
Zunächst wähle ich einen Kernsatz aus: „Wir machen aus technologischem auch
gesellschaftlichen Fortschritt.“ Technologischer Fortschritt ist unstrittig; denn Anzahl
und Genauigkeit technologischer Parameter nehmen mit der Zeit monoton zu. Aber was wird
daraus wie sozial? Wie haben Telegraph, Telephon, Radio, Fernsehen und Smartphone die
Gesellschaft seit Virchows Zeiten in der Fortschrittspartei sozialer gemacht? Und ist die
Gesellschaft seit Brandt demokratischer geworden? Meinem Eindruck nach hat es seit Virchow
einen enormen sozialen und demokratischen Fortschritt gegeben, aber kaum mehr seit dem
Ende der 1970er Jahre. Ein sozialer Parameter wäre die Zufriedenheit in Abhängigkeit vom
Wohlstand, die seitdem gemäß Umfragen kaum mehr zunimmt. Mit welchen sozialen Parametern
wäre der digitale Aufbruch verbunden?
Rudolf Virchow hatte 1865 einen Vortrag gehalten: „Über die nationale Entwicklung und
Bedeutung der Naturwissenschaften.“ Die nationale Komponente wäre gemäß Koalitionsvertrag
nunmehr durch die europäische, wenn nicht globale zu ersetzen; könnte ansonsten aber
beibehalten werden; bspw. von der Reproduktionsmedizin zur reproduktiven Selbstbestimmung
und ergänzend von der traditionellen Kleinfamilie zur zukünftigen
Verantwortungsgemeinschaft. Damit ließe sich an den Existentialismus Sartres anknüpfen,
nämlich „das der Mensch, der verurteilt ist, frei zu sein, das ganze Gewicht der Welt auf
seinen Schultern trägt: er ist, was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich für die Welt
und für sich selbst."
„Die Frage lautet, ob so etwas wie sozialer Fortschritt gedacht und, wichtiger, gemacht
werden kann“, schrieben der Schriftsteller Dath und die Chemikerin Kirchner in ihrem 2012
erschienenen Gemeinschaftswerk „Der Implex": „Was da ist. Das nennen wir die
Möglichkeitsgeographie, Entscheidungsraum, das nennt dieses Buch den Implex.“ Nicht nur
das, was war, sondern auch das, was möglich war und noch sein könnte, wird im
„Implex" erzählt.
Aber zeigt der gegenwärtige Übergang von der Covid-19-Pandemie in die -Endemie, wie sich
technologischer Fortschritt in sozialen Fortschritt verwandeln kann? Gedacht wird sozialer
Fortschritt seit der Aufklärung und gemacht seit der amerikanischen und französischen
Revolution. Es wäre aufschlussreich, im Detail zu verfolgen, wie aus den hehren Anfängen
die heutigen Situationen in den USA und Frankreich hervorgingen. Als Chemikerin ist
Kirchner auch mit der Quantenchemie und der Molekulardynamik vertraut, die momentan dabei
eingesetzt wird, schon mal vorab die Konsequenzen der Mutationen an der Omicron-Variante
hinsichtlich ihrer veränderten Antigene für die Antikörper des Immunsystems zu berechnen.
In Evolutions- und Quantentheorie ist das Denken in Möglichkeitsräumen selbstverständlich
und im „Implex“ wird versucht, diesen Ansatz von der Naturwissenschaft auf die
Sozialwissenschaft auszuweiten. Das gelingt bspw. Helbing mit seiner quantitativen
Soziodynamik. Dath/Kirchner verweisen aber auch auf Bourdieu: „Hexis und Praxis, in der
Kritik der dialektischen Vernunft, eine Vokabelentscheidung, in der dann später
Lebensstil- und Geschmacksanalytiker wie Bourdieu wieder ihre eigenen Späße trieben.“ Bei
Pierre Bourdieu ist der Habitus bzw. die Hexis das Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip
von Praxisformen, die wiederum auf es zurückwirken. Das scheint mir ähnlich wie bei den
energieoptimiert verteilten Ladungen im von ihnen ausgehenden elmag. Feld,
selbstkonsistent berechenbar in der Dichte-Funktional-Theorie DFT – oder wie bei den
energieoptimiert verteilten Massen im von ihnen ausgehenden Gravitationsfeld, berechenbar
in der Allgem. Relativ. Theorie ART.
Aber agieren Menschen im sozialen Raum wie Teilchen im physischen Raum? Bei Bourdieu
sollen Habitus und Feld die Opposition von Individuum und Gesellschaft überwinden. Eine
Dialektik in Natur und Menschheit gleichermaßen ernergieoptimiert selbstabilisierend und
mathematisch selbstkonsistent verstehen zu wollen in einer allgemeinen Feldtheorie
physischer wie sozialer Felder scheint mir seit langem plausibel und wir diskutierten
darüber damals im Marx-Seminar in Verbindung mit einem rationalen Verständnis von
Dialektik.
Weiter geben Dath/Kirchner Hinweise auf die mathematische Situationstheorie von Barwise
und Perry und gehen auf die Infon-Logik von Gurevich und Neeman ein. Infonen hatte ich
bisher vage im Anschluss an Photonen im Gedächtnis behalten, aber nunmehr entsprangen die
Infonen der Situationstheorie. "An ontological approach to situation theory“ hat
Robert Hoehndorf 2005 in seiner "Situoid theory“ gegeben. Aber denkt ein Philosoph
beim Situationsverständnis nicht auch an den Existentialismus und speziell an Sartre?
Der schrieb in seinem Hauptwerk: „Ich ergreife die transzendierte Transzendenz des
Anderen als Leib-in-Situation und ich erfahre mich in meiner Entfremdung zugunsten des
Anderen auch als Leib-in-Situation.“ Allgemeiner bestimmte Sartre das, was er
In-Situation-Sein nennt, im Anschluss an die verschiedenen Darstellungen, die sich auf
meinen Platz, meine Vergangenheit, meine Umgebung, meinen Tod und meinen Nächsten
erstrecken; denn „es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch
Freiheit. Die menschliche Realität trifft überall auf Widerstände und Hindernisse, die sie
nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der und
durch die freie Wahl, die die menschliche Realität ist.’’ Eine mehr oder weniger freie
Wahl gibt es für den Mathematiker primär in Möglichkeitsräumen, für die der Physiker die
Wahrscheinlichkeitsgewichte für die jeweiligen Situationsänderungen durch
Zustandsübergänge berechnet.
Die Regierung Scholz will zwar mehr Fortschritt wagen, aber es fehlt ihr offensichtlich
der theoretische Rahmen. Brandt bezog sich damals auf die kritische Theorie, in der es dem
jeweiligen Stand der Technik nach um die Veränderung der Gesellschaft zum Besseren ging.
Schmidt und Schröder folgten dann dem kritischen Rationalismus mit seiner
Stückwerk-Technologie. Um mehr scheint es mir bei Scholz auch nicht zu gehen. Wäre
vielleicht eine der heutigen Situation angemessene Fortschrittstheorie hilfreich? Und böte
„Der Implex“ einen Anfang dafür?
IT