Die kontraintuitive Clausewitz-Formel, die man heute in der Tat als
"Täter-Opfer-Umkehr" zurückweisen würde, will m.E. gerade den moralisch (und in
der Folge: (völker)-rechtlich) konnotierten Begriff des "Opfers" und des
"Angreifers" vermeiden. Sie fragt: wie entsteht ein Konflikt? Und ein Konflikt
entsteht doch genau genommen erst, wenn B nicht will, was A will. Der Angreifer A will ja
eigentlich gar keine Gewalt ausüben, er will sich etwas nehmen (daß ihm das nicht gehört
oder nicht zusteht, ist dabei sekundär). Wer das verhindern will (aus genau diesen für ihn
"legitimen" oder auch anderen Gründen), initiiert den Konflikt, wird damit
faktisch zum Erstanwender von Gewalt, und zwar sogar bewußt und willentlich (denn er
könnte ja auch einfach dem Wollen von A nachgeben, er könnte gewaltabstinent bleiben, er
könnte "auch die andere Backe hinhalten", usw.). Er wählt Gewalt als die für ihn
offenbar günstiger eingeschätzte Handlungsalternative zur sofortigen Kapitulation, zum
sofortigen bedingungslosen Einwilligen in die Intention von A. Nur deswegen und erst dann
beginnt "Krieg".
Daß die radikal kriegsvermeidende Alternative des sofortigen Nachgebens so unbeliebt und
unwahrscheinlich ist, liegt wohl daran, daß sie immer moralisch überformt ist; sie gilt
als "ehrlos" und "feige" (und ist daher v.a. religiös zu
plausibilisieren, nur für "Märtyrer", die keine "innerweltlichen"
Ehrbegriffe kennen usw.). Aber das hängt eben auch damit zusammen, daß man sich bei
Gewaltausübung so schwer tut, sie als "professionelles (wohlabgewägtes,
entemotionalisiertes, nüchternes) Handeln" zu verstehen. Ein
"professioneller" Gewaltanwender würde nicht nach "Ehre" und
"Gefühl" entscheiden, sondern rein rational, nach den Erfolgschancen und
prognostizierbaren Gewinn-Verlust-Bilanzen. Die Sofort-Kapitulation erscheint dann ohne
weiteres als vernünftige Option. (Deswegen erscheint sie ja auch bei ganz klaren
übersichtlichen Entscheidungssituationen - wie sie der klassische nächtlichen Raubmörder
formuliert: "Geld-oder-Leben" - sofort einsichtig; sobald Risikokalküle
schwieriger werden, wird das Kapitulieren unattraktiver und Selbstverteidigung scheinbar
zur "Pflicht", und zum "Recht").
Das "Recht", auf das dann immer gern als Retter in Gewaltverhältnissen und
ultimativer Anhaltspunkt verwiesen wird, spielt daher eine ambivalente Rolle: es
verhindert, oder reduziert zumindest rein rationales Chancen-Abwägen im je konkreten
EInzelfall. Aber für den Angegriffenen ist doch weitaus wichtiger als die Frage, ob er ein
"Recht" hat, sich zu verteidigen, die, ob Verteidigung per Gegengewalt für ihn
(in dieser Situation) "sinnvoll" und erfolgsversprechend ist. Über das Recht
kann man irgendwann nachher "vor Gericht" debattieren, wenn man mag. Zuerst
heißt es " à la guerre comme à la guerre". Und das schließt die
Kriegsvermeidungsstrategie ein.
JL
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: ingo_mack über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Dienstag, 16. Juli 2024 17:44
An: Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: ingo_mack <ingo_mack(a)web.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
hallo Claus:)
bist du ganz sicher, daß sich Herr Clausewitz
sich eingehender mit dem Henne-Ei-Problem herumgeschlagen hat?
wenn Gewalttaten (konsequent) auf ihre Ursprünge zurückgeführt werden
bist du ruck-zuck beim Brudermord und der hat schlicht nur gefragt,
warum er seines Bruders Hüter sein soll.
ist Notlüge auch eine Form von Gewalt?
Am 16.07.24 um 16:58 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb:
An dem Clausewitz-Zitat gefällt mir nicht, dass, wer
sich verteidigt,
damit als Angreifer dastehen könnte. Das wird als Täter-Opfer-Umkehr
bezeichnet und wäre eine Riesenschweinerei. Man könnte es aber auch so
verstehen, dass damit ohne Schuldzuschreibung nur gesagt wird, dass
die Verteidigung in der Regel der erste Schritt zu längeren Kämpfen
sein wird, weil der Angreifer seine Gewaltbereitschaft ja schon
gezeigt hat.
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