Am 21.10.2021 um 00:56 schrieb Joseph Hipp via Philweb:
[Philweb]
Nur mal einige Fragen und vielleicht auch Fragwürdigkeiten, in freiem
Schreiben (also Schwafeln):
1. Ist Schwafeln bzw. Schwadronieren gerade bei mathematischen
Aufgaben und Lösungsversuchen erforderlich, mehr noch als bei der
freien Rede der Belesenen?
2. Ich frage mich, ob das Wort Vaihinger-Fiktion überhaupt
erforderlich ist. Er wollte seine Fiktion schließlich klar von den
Hypothesen einer Wissenschaft trennen. Im einen Fall wird eine sehr
unsichere Sache in einer Sache einfach mal benutzt, dann wird
gerechnet, und wenn die Lösung vorliegt, dann wird die unsichere Sache
weggeworfen. (unsichere Sache=Fiktion). Wenn jedoch in einer
Gesamt-Theorie eine Hypothesenmenge genommen wird, die sogar
austauschbar ist, dann wird diese auch nur in der Wissenschaft selbst
gebraucht, und fällt weg, wenn sich ein anderes Thema aufdrängt. Und
aus der einen oder anderen Hypothese werden Sätze, die innerhalb der
Theorie behauptet werden, wenn andere Hypothesen genommen werden. Ich
kann mich nur so ungefähr ausdrücken. Dann wären Vaihinger-Fiktionen
doch nur Hypothesen, sozusagen für den täglichen Gebrauch. Zur
Unterscheidung in dem Sinne nehme ich das Wort Vaihinger-Fiktion auf
jeden Fall gerne an.
Schwafeln oder Schwadronieren sind durchaus negativ besetzte Begriffe,
die nicht nur deshalb in der Mathematik (sei es bei der Stellung oder
Lösung mathematischer Aufgaben) keine Anwendung finden; ich denke, das
gilt für den gesamten MINT-Sektor der Naturwissenschaft und daher gibt
es diesbezüglich kaum Diskussionsbedarf.
In allen anderen Bereichen gesellschaftlicher Kommunikation finden sich
nicht nur diese Begriffe, sondern sehr oft auch deren konkrete Ausprägungen.
Der oftmals verwendete Ausspruch „nicht auf Worte sondern auf Taten
kommt es an“ legt zunächst nahe, gesellschaftliches Geschehen überhaupt
nur an Taten resp. an der daraus entstandenen Faktizität bewerten zu
wollen. Diese einseitige Festlegung übergeht allerdings die Bedeutung
der Verbindung zwischen Sprache und Handlung, wie das Hannah Arendt m.E.
am deutlichsten in ihren Arbeiten herausgearbeitet hat:
„Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander,
anstatt lediglich verschieden zu sein.“
Die Einheit aus Sprache und Handeln charakterisiert also die Menschen
und macht sie durch demgemäße Interaktion mit dem jeweiligen
gesellschaftlichen Umfeld erkenn- und unterscheidbar, ordnet den
Menschen als Mitglied eines sozialen Kollektivs ein, dem er sich
grundsätzlich nicht entziehen kann bzw. will, allenfalls sich – sei es
temporär oder dauerhaft - diesem auf gewisse Weise zu verschließen sucht.
Zu Letzterem werden jene neigen, deren Selbstfindungsprozess (noch)
nicht abgeschlossen ist, einerlei, ob diese Erkenntnis autonom oder per
Zuschreibung erfolgt ist. Vielleicht könnte man beispielhaft
Kierkegaard oder auch Sartre in ihren dementsprechenden
Lebensabschnitten dieser Kategorie von Menschen zuordnen, die zuerst
sich selbst in ihrer Eigentlichkeit erkennen und bewerten müssen, bevor
sie sich auf eine Art gesellschaftliche Uneigentlichkeit einlassen.
Sofern diese an sich notwendige Selbstfindung nicht hinreichend gelingt,
mündet dieser Entwicklungsprozess nicht selten in Zwangsvorstellungen,
die letztlich in einen Solipsismus verschiedenster Ausprägung führen
kann, dem nur schwerlich zu entrinnen ist, wie sich das an
Persönlichkeitsbildern von Menschen aller gesellschaftlichen Schichten
zeigt. Bei diesen Menschen wird man i.A. keine Neigung zum „Schwafeln“
sondern ggf. eine nahezu zwanghafte Fixierung auf ihr individuell
entwickeltes Weltbild feststellen. Der hier auch immer wieder
beschworene Konstruktivismus ist m.E. vornehmlich in seiner radikalen
Auseinandersetzung mit der faktischen Lebensrealität eine
dementsprechende Ausdrucksform:
Man will bzw. kann die Tatsächlichkeit der Lebenswelt, insbes. in ihrer
Fallibilität nicht annehmen, findet daher keinen Bezug zur Außenwelt und
konstruiert daher abstrakte Gedankenmodelle, die jedoch an der
Eigentlichkeit von Welt und Leben vorbeiführen und damit zu Deprivation
vielfältigster Ausprägung führt und nicht zuletzt lediglich einen nur
ärmlichen Erkenntniszugang bietet. Somit erscheint die reduktionistische
Antwort des Konstruktivismus auf diesen gesellschaftlichen
Orientierungsverlust als verführerischer Ausweg, der konkreten
Lebensrealität (zumindest ideologisch) mit Bezug auf jeweils
individuelle Befindlichkeiten zu entfliehen.
Der radikale Konstruktivismus stellt bestenfalls einen
wissenschaftlichen Ansatz zur Erklärung bezüglich einer auf das
Individuum zentrierten Kognitionspsychologie dar, im
sozialwissenschaftlichen wie auch im real gesellschaftlichen Bereich
bieten dessen Thesen keine eindeutig plausiblen Erklärungsmuster und
haben daher längst ihre gesamtwissenschaftliche Relevanz verloren, die
sie zufolge der gesellschaftlichen Krisen vornehmlich ab den späten
1960er Jahren durchaus im Kontext der aufgekommenen interpretativen
Paradigma erworben hatte.
Mit Varela, Maturana, Watzlawick, Luhmann, Glaserfeld, v. Foerster et
al. schickten sich typische Vertreter des New Age an, einen
Paradigmenwechsel herbei zu führen, der jedoch allenfalls als Übergang
zu nunmehr wirklich neuen Sichtweisen auf die Prinzipien der
Selbstorganisation und vornehmlich selbstreferentieller
neurophysiologischer Persönlichkeitsstrukturen gelten kann.
Die Leugnung eines objektiv kognitiven, unverstellten Zugangs zur realen
Lebenswelt durch den radikalen Konstruktivismus in seiner Annahme einer
ausschließlich subjektiven Wahrnehmung als Konstrukt des Gehirns lässt
sich im Lichte neuester neurowissenschaftlicher Forschung schlichtweg
nicht mehr halten. Insoweit also die Vaihinger-Fiktion in diese Richtung
interpretiert wird, verliert auch diese These ihre Gültigkeit.
In diesem Zusammenhang und zur Abkehr von weltfremder Sozialutopie ist
mir G.B. Shows Ausspruch gegenwärtig:
„ Life isn‘t about finding yourself, life ist about creating yourself“
und damit komme ich nochmal zu Hannah Arendt, die Sprechen und Handeln
als Initiative zu stets neuem Anfangen definiert, andernfalls man schon
zu Lebzeiten ein Toter sei.
Diese optimistische, das Leben bejahende und befördernde Sicht steht im
klaren Gegensatz zu Heideggers „in die Welt geworfen sein“. Damit
verweise ich an die hier vor Zeiten geführte Diskussion zum Thema der
Willensfreiheit: Wer sich kreativ in den Kategorien des Denkens,
Sprechens und Handelns zu bewegen vermag, hat immer die Freiheit (Neues)
anzufangen. Natürlich erfolgt das nach den Regeln des „trial and error“.
Dabei kann nur jener am Leben schuldig werden, der einen erkannten
Irrtumsweg nicht verlässt; dabei ist es gleichgültig, ob Sprache oder
Handlung die Gesetzlichkeit des Lebens verletzen.
In seinem Denken, Sprechen und Handeln erschafft sich der Mensch
idealerweise quasi immer wieder auf‘s Neue. Dieser jeweilige Neubeginn
drückt sich auch im Sprechen aus, obgleich der Bezug zwischen Anfangen
und Handeln enger ist. Selbstreferenz ohne Neubeginn und Außenbezug
bedeutet tot sein schon im Leben.
Zurückkommend auf „Schwafeln“ würde ich daher festhalten wollen, dass
sich daraus eine dementsprechende Sprache-Handlung-Beziehung herleiten
lässt, d.h. wer dem Leben verantwortlich im jeweilig sozialen Umfeld
kreativ handelt, wird kaum zu den Schwaflern dieser Welt gehören.
Nun noch zu Libets Experimant und den daraus abgeleiteten Feststellungen
zum freiem Willen:
Mit dem Verweis von Joseph auf ein Dokument zum Thema (Dissertation von
Mechthild Maria Haake) wird durch diese kompetent ausgeführte Arbeit
deutlich gemacht, dass die aus Libets Experiment abgeleiteten
Schlussfolgerungen zum sog. Freien Willen (wie sie sich bis heute
offensichtlich hartnäckig halten) schlichtweg unhaltbar sind. Zu
bedenken ist dabei, dass Libet selbst mit seinem Experiment nicht die
Willensfreiheit infrage gestellt hat.
Erstaunlich genug, dass bezüglich der Diskussion um die sog.
Willensfreiheit immer noch und immer wieder auf dieses Experiment
abgehoben wird; Erstaunlich vor allem deshalb, weil die bei diesen
Versuchen abgeleitete Hirnaktivität (Bereitschaftspotential) zwar mit
neurologisch-technisch hinreichend exakten Methoden gemessen wurde,
hingegen der definitiv zu korrelierende Wahrnehmungs-Zeitpunkt der
Willensempfindung nur durch Introspektion der Versuchsperson zu
ermitteln war. Aus dieser (eher künstlich) konstruierten
Versuchssituation kann unmöglich eine generalisierte Aussage zur
Existenz eines freien Willens entwickelt werden, da die (objektive)
Verlässlichkeit der subjektiven Wahrnehmung genuiner Intentionalität
nicht im streng wissenschaftlichen Sinne gegeben ist.
Dieses Experiment entsprach eher plump angelegter Empirik, hat aber zu
nachfolgenden Versuchen geführt, die unter verbesserten
Versuchsanordnungen (Umgehung des Libetschen Modalitätsproblems,
Demand-Effekte etc.) definitiv valide Aussagen über neuropysiologische
Abläufe bezüglich freiwillig bewusster Handlungsabsicht und -ausführung
ergaben, wonach letzterer mit einer ca. 500ms unbewusst ablaufenden
Vorbereitungszeit eingeleitet wird. Die bewusste Wahrnehmung dieser
Intention erfolgt ca. 300ms nach der Ausführung. Aus diesen
Messergebnissen jedoch die Existenz eines sog. Freien Willens abzuleiten
bzw. infrage stellen zu wollen, ist nach wie vor ein unzulässiges
Ansinnen, da dieses derzeit noch nicht (wenn überhaupt jemals) eine
naturwissenschaftlich, sondern philosophisch zu klärende Frage ist.
Wir hatten hier vor einiger Zeit über Willensfreiheit diskutiert und so
würde es sich anbieten, daran anzuknüpfen. Für meinen Teil bleibe ich
bei meiner Einschätzung, dass Menschen nicht über einen absoluten,
sondern über einen bedingt freien Willen verfügen. Angelehnt an
Schopenhauers Ausspruch, der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er
kann nicht wollen, was er will, würde ich in diesem Zusammenhang von
Freiraum sprechen, der dem Menschen typbedingt gegeben ist. Dabei
spielen die Determiniertheit im Sinne von Wahrscheinlichkeit eine
wesentliche Rolle:
Das Wahrscheinliche passiert am Wahrscheinlichsten!
Vermutlich ist es hilfreicher, anstatt tausender Seiten Literatur zum
Thema Willensfreiheit und deren individuelle und gesellschaftliche
Konsequenzen praktische Beispiele zu betrachten:
Setzt man einen Stimulus (gleich ob als Aussage oder Handlung) gegen
Menschen von unterschiedlichem Typus, also Choleriker, Sanguiniker,
Melancholiker oder Phlegmatiker, wird man in aller Regel
dementsprechende Reaktionen ableiten können. Damit wird deutlich, dass
die angeborene Charakteristik auch für die jeweils eigene
Handlungsplanung und -ausführung wesentlich entscheidend ist, darüber
hinaus der erworbene und intelligible Charakter maßgebliche Kriterien
für die individuelle Willensbildung sind. Letztere wird selbstredend
auch durch entsprechende Sozialisierung beeinflusst.
Davon ausgehend, dass sich zu diesem Thema noch eine lebhafte Diskussion
entwickelt, möchte ich hier zunächst enden, um hier nicht zu sehr
auszuufern.
Bester Gruß! - Karl
PS: Ich würde mich nicht unbedingt an die Aussage des radikalen
Relativisten H.J. Niemann binden, amüsant ist diese allemal:
„Das mit der Konstruktion haben nicht die Leute erfunden, die sich jetzt
(seit den 80er Jahren) damit brüsten und "Konstruktivisten" nennen. Es
handelt wahrscheinlich sich um Wissenschaftsbetrüger, die ihr Wissen nur
von Kant und Popper gestohlen haben und es als ihre Erkenntnis ausgeben.
Vielleicht haben einige von ihnen auch nicht gestohlen, sondern einfach
nicht gelesen, was andere schon vor ihnen gemacht haben. In jedem Fall
haben sie die Rolle der Kritik überhaupt nicht oder erst nach
Jahrzehnten erkannt.“
3. Was die Eigenschaften des Waldemar anbelangt müsste er die
Unterschiedlichkeiten dieser einmal bedenken. Zudem ist die von der
erlebten Statue erlebte Rose die ganze Welt, die Wirkung der Rose auf
die Statue wird nur vom Betrachter gedacht. Und nur ein Überbetrachter
könnte sagen, dass eben alles was der Betrachter denken kann, seine
Welt ist. Welche Stelle nimmt Waldemar ein? Hier sehe ich ganz
deutlich die fiktive Grenzsetzung, und zwar die des Üexküll
(
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Johann_von_Uexk%C3%BCll) in Welt
und Umwelt, die nur vom Betrachter gezogen werden kann.
4. Ist hier jemand, der dem Libet-Experiment misstraut? Wobei? Hier
scheint mir ein erklärender Aufsatz zu sein:
https://www.zhb.uni-luebeck.de/epubs/ediss2097.pdf, den ich noch
richtig lesen muss.
s.o.