Am 03.04.2024 um 15:17 schrieb Joseph Hipp über
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Und sind die Vaihingerfiktionen nicht schon im
Möglichkeitssinn Musils aufgegangen?
Das ist eine gute Frage, einerseits weil die Vaihingerfiktionen gedacht werden, und
Möglichkeiten dazu passen. Andererseits kann ich als Unbelesener die Stellen bei Musil
nicht im Kopf haben. Übrigens auch an andere Leser hier: Der aktuelle
Vaihinger-Wikipedia-Artikel passt noch nicht. Vaihinger ging es um die klare Trennung von
Fiktion und Annahme, nicht um Möglichkeit oder gar einen Möglichkeitssinn, oder so etwas
wie die Gewissheit oder Offensichtlichkeit der Voraussetzungen (erste Grundsteine, die
auch die Konstruktivisten brauchen, Axiome diejenigen, die diese als fest ansehen)
insbesondere der Mathematiker.
Hi JH,
die Vaihingerfiktionen entstammen dem literarischen Philosophieren und gehen insofern
zwanglos in philosophische Literatur über, wie sie Musil geschrieben hat. Dabei hat er
bereits im „Törless“ an Vaihinger angeknüpft in der Art, wie er „die Geschichte mit den
komplexen Zahlen“ behandelt. Freund „Beineberg“ vergleicht das Rechnen mit komplexen
Zahlen bspw. mit einer Brücke, „von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die
man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde.“ Ausführlicher folgt
Achille C. Varzi Vaihingers Spuren im „Törless" in: „Musil’s Imaginary Bridge“.
In der Elektrotechnik wird die komplexe Scheinleistung als Summe von reeller Wirk- und
imaginärer Blindleistung dargestellt. Veranschaulichen lässt sich das in der Gaußschen
Zahlenebene. Und in der Quantenmechanik werden die Wahrscheinlichkeiten für die reellen
Messwerte aus dem reellen Betragsquadrat der komplexen Wahrscheinlichkeitsamplitude
berechnet. Wirklichkeiten sind reell, Möglichkeiten imaginär.
Du verweist darauf, dass es Vaihinger um die „klare Trennung von Fiktion und Annahme“
ging. Wer nach Musil, wie der Mathematiker „Ulrich“, Möglichkeitssinn besitzt, „sagt
beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen;
sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von
irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte
wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die
Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist,
nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“
Auf die Handlungspraxis bezogen, stehen Menschen ständig vor Entscheidungen unter
Alternativen, merken es aber häufig gar nicht, wenn sie in eingefahrener Lebensweise bloß
noch ihren Gewohnheiten folgen. Vereinbar mit dem Möglichkeitssinn wie mit dem
Fiktionalismus ist die mathematische Stochastik. In der Wahrscheinlichkeitstheorie werden
Annahmen gemacht, mit den stochastischen Modellen Fiktionen simuliert. Die
Gleichgültigkeit bzw. invariante Haltung des Mannes ohne Eigenschaften bzgl. seiner
Handlungspraxis wird allerdings bewusst oder unbewusst stets durch
Wahrscheinlichkeitsgewichtungen verfeinert. Denn welcher wirkliche Mensch könnte so
gleichgültig sein wollen wie die Romanfigur „Ulrich“?
IT
PS. Gerade hast Du den Vorschlag gemacht, Sprache durch Meinungen zu ersetzen: „Dann
fliegen diese hin und her, und bestimmen den Weltenlauf. Dann haben die Mathematiker
längst aufgegeben, zu sagen, es wären ihre Wahrscheinlichkeitsrechnungen.“ Darüber kann
ich nur lachen; denn wenn es nicht ironisch gemeint war, sind es gerade Meinungsbildungen,
die schon vielfach mit stochastischen Modellen simuliert
wurden. Aber woher rührt eigentlich Deine Aversion gegen Mathematik?