Hallo Ingo,
Ich fasse meine Antwort auf deine beiden mails zusammen, wobei ich mich zu physikalischen
Fachangelegenheiten wie gehabt nicht äussere.
"Gewohnheitsannahmen sind keine Allsätze, die durch Gegenbeispiele widerlegbar wären.
Sollte es einmal blitzen, ohne zu donnern, war das Gewitter vielleicht zu weit weg, der
Donner zu schwach oder der Gegenwind zu stark, um hörbar zu sein."
Die Möglichkeit der Widerlegung eines Satzes, der auch eine inhaltliche Aussage sein
könnte, kann man wie gesagt nur dadurch ausschliessen, daß man ihn zur Definition erklärt.
Sobald Gegenbeispiele zugelassen sind, redet man über Blitze, andernfalls über
"Blitze". Die Uneindeutigkeiten der Alltagssprache können dadurch beseitigt
werden, daß man nachfragt, wie das Wort gemeint ist. Dann steht fest, ob der Satz durch
Gegenbeispiele widerlegbar ist (dann würde es sich vermutlich in deiner Ausdrucksweise um
eine Gewohnheitsannahme handeln) oder nicht.
Allgemein: Redet man über Zeichen, muss und kann nichts bewiesen werden, redet man über
Bezeichnetes, ist man beweispflichtig. Sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft. Nur
inhaltliche Aussagen sind durch Gegenbeispiele widerlegbar, ob es sich nun um Vermutungen
oder um zwar nicht methodisch aber durch Lebenserfahrung erworbene Gewissheiten handelt.
Soweit Theorien also nicht durch Gegenbeispiele widerlegbar sind, handelt es sich offenbar
um Formen ohne Inhalt.
Auch zum "Verstehen der bizarren Verläufe von Blitzen" kann ich mich nur
wiederholen. Eine Rechnung versteht man, wenn man weiß, wie man das Ergebnis herausbekommt
und es gibt richtige und falsche Ergebnisse, zwischen denen man unterscheiden kann. Was
bei einem Experiment herauskommt, kann man aber nur abwarten und sagt bei einer (natürlich
nach allen Regeln der Kunst nachgeprüften) Überraschung nicht: umso bedauerlicher für die
Tatsachen. Natürlich kann man auch bei blossem Korrelationswissen von Verstehen reden,
wenn man will, aber es bedeutet dann eben etwas anderes als das Verstehen einer Rechnung.
Und wenn man sagt: das Verstehen bezieht sich gar nicht auf irgendwelche schnöden
Korrelationen, sondern auf rein theoretische Deduktionen...dann bezieht es sich eben auf
Formen ohne Inhalt und nicht auf ein Naturgeschehen oder Aussagen darüber.
Wenn die Anwendung neuer analytischer Verfahren auf bekannte Erfahrungszusammenhänge zur
"Aufdeckung bisher verborgener Zusammenhänge" führt, dann steht und fällt das
mit der empirischen Bestätigung oder Widerlegung des Ausgangsmaterials, das man dann
wieder insofern nicht verstehen oder missverstehen kann, als man zur Kenntnis nehmen muss,
was die Natur einem präsentiert.
Temperatur, Strahlung und Farbe können miteinander korrelieren (unter der Bedingung, daß
sich die Begriffe nicht überschneiden) und tun das offenbar. Wenn man die Art und Weise
der Korrelation mit einer Formel F1 beschreibt, lässt sich eventuell ableiten: wenn F1
gilt, gilt auch F2. Das lässt sich erfahrungsunabhägig auf formale Korrektheit überprüfen.
Ob F1 gilt, ist aber so ähnlich wie mit dem Blick aus dem Fenster zu beantworten,
meinetwegen unter verschärften Protokollbedingungen und statt aus dem Fenster durchs
Mikro- oder Teleskop. Dazu kommt die Verallgemeinerung von Einzelfällen, die
unvermeidlich ist, wenn man über Gegenstandsbereiche redet, die man nicht komplett
übersieht. Rein deduktiv wird es nicht gehen, wenn man sich nicht auf Formenlehre
beschränken, sondern inhaltliche Aussagen machen will. Ob man vielleicht nur den
deduktiven Teil mit dem Namen Theorie adelt, weiß ich nicht und ist ja auch mehr eine
terminologische Angelegenheit.
Claus
Am 7. Jan. 2020, 17:49, um 17:49, Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de> schrieb:
Am 06.01.2020 um 01:19 schrieb Claus Zimmermann
<mail(a)clauszimmermann.de>de>:
unter "Aufdeckung verborgener
Zusammenhänge" würde ich mir (neben
computergestützter Schleppnetzfahndung in
grossen Datenmengen)
analytische, deduktive Verfahren vorstellen, mit denen das vorhandene
Wissen systematisch bis zum letzten Tropfen ausgepresst wird, wobei die
Ergebnisse davon abhängen, wovon man ausgeht. Zu beweisen ist dann die
Korrektheit der Deduktion. Damit steht aber noch lange nicht fest, ob
die Theorie dem Realitätstest standhält.
Hi Claus,
Theorien sind nicht testbar, sie werden prinzipiengeleitet erahnt und
mathematisch deduziert. Testbar sind die aus der Theorie folgerbaren
Hypothesen. Wenn sie scheitern, ist die Theorie zu modifizieren oder in
ihrem Gültigkeitsbereich einzuschränken.
Das (die Aufdeckung verborgener Zusammenhänge)
fällt für mich unter
"Schärfung der Instrumente" und ist nicht gering zu
schätzen, ändert
aber nichts an der Berechtigung der Frage, ob man versteht, wie es zu
einem Ereignis kommt, wenn man die erfahrungsgemässen Bedingungen
seines Eintretens angeben zu können meint, das aber zurücknehmen muss,
falls es doch nicht eintritt. Während ich eine Rechnung z.B. erst dann
verstehe, wenn ich weiß, wie ich das Ergebnis herausfinde und, falls
ich etwas anderes herausbekomme, nicht die Erklärung der Rechnung,
sondern das Resultat korrigiert wird. Das wäre, vermute ich, Humes
Einwand gegen das "endlich verstehen wir" der Renaissanceforscher
gewesen. Rechentechniken denken wir uns aus, Tatsachen müssen wir zur
Kenntnis nehmen. Das ist eigentlich alles, was ich sage. Durchaus mit
Respekt für die Raffinesse der Wissenschaften bei der Auswertung der
Tatsachen.
Um in Deinem Bild zu bleiben, es geht nicht um die Schärfung, sondern
um neue Instrumente. Zwischen Rechentechniken und Tatsachen gibt es
Zusammenhänge, wobei die Rechentechniken die Tatsachen erst ermöglichen
und es wesentlich auf die jeweiligen Beweise der Rechentechniken und
Tatsachen ankommt. Daumenregeln und Alltagstatsachen mit mathematischen
Theorien und naturwiss. Tatsachen zu vergleichen, ist so als ob ich
einen Faustkeil mit einem Flugzeugträger vergliche. Beide können Waffen
sein. Aber was sagt das schon über sie aus? Worte sind halt die großen
Gleichmacher. Was aber empirisch ist an einer Messgröße ist ihre
Quantität. Darüber hatten wir hier in der Runde schon mehrfach
diskutiert. Das müssen wir nicht wiederholen.
Es grüßt,
Ingo