Lieber Ingo,
das von dir zitierte Cl.-Unterkapitel (das direkt auf den Satz vom "Krieg" als
Fortsetzung der Politik folgt), macht auf einen scheinbar paradoxen, jedenfalls
kontraintuitiven Zusammenhang zwischen - eben - Politik und Krieg aufmerksam: Je mehr die
Politik die Kriegs-Option für entscheidend, überlebenswichtig, unausweichlich erklärt
("wollt ihr den totalen Krieg"?), umso "unpolitischer" und
"rein" kriegerischer (brutaler, hemmungsloser, gewaltvoller) wird er. Wenn die
Kriegsmotive hingegen (das ist der von dir zitierte Satz) eher schwach sind, nur
strategisch oder partikular interessenorientiert, um so weniger verläuft der Krieg nach
seiner eigenen "natürlichen" Logik, seinem eigenen "Ideal"
entsprechend, er scheint also viel eher "politisch" motiviert (ist also auch
politisch leichter zu "handeln").
Das zeigt m.E. gut, wie Politik und Krieg zusammenhängen (und wie eben nicht): Krieg ist
ein mögliches Mittel der Politik; daß sie streng wesensverschieden bleiben, zeigt sich
gerade darin, daß je "mehr" Politik (also Motivation, Energie, Überzeugung) in
den Krieg "eingespeist" wird, um so mehr wird er "nur noch Krieg"
(also: macht sich von der Politik frei); je weniger der Krieg hingegen politisch wirklich
"notwendig" ist, desto mehr bleibt er auch politisch steuerbar. (Und diese
Einsicht verkürzt die unkritische Rede vom "politischen Krieg" eben
wesentlich!).
Daß es sich dabei um einen un(ter)bestimmten Begriff von Politik handelt, mag man
meinetwegen behaupten (Cl. will ja auch nicht über Politik, sondern eben über Krieg
schreiben); warum und wie dem, was diesem Politik-Begriff "fehlen" mag,
allerdings dadurch abzuhelfen ist, daß man ihn schlicht normativiert, bleibt mir
zweifelhaft. Gerade solche wichtigen deskriptiven "Feinheiten", wie die Frage,
mit welcher "Intensität" die Politik die Kriegsoption betrachtet (wie - und von
wem, wann, warum - Kriegsziele definiert, argumentiert, verändert, zurückgezogen werden),
ist doch von einer präskriptiven Politiktheorie überhaupt nicht adäquat zu fassen und
moralfrei zu bewerten.
JL
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Samstag, 20. Juli 2024 17:17
Cc: philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>; Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
Hi JL,
aus „Vom Kriege“ lässt sich vielerlei herausdeuten. Ich habe ein weiteres Zitat parat
(1.1.25): „Je schwächer aber Motive und Spannungen sind, um so weniger wird die
natürliche Richtung des kriegerischen Elementes, nämlich der Gewalt, in die Linie
fallen, welche die Politik gibt, um so mehr muß also der Krieg von seiner natürlichen
Richtung abgelenkt werden, um so verschiedener ist der politische Zweck von dem Ziel eines
idealen Krieges, um so mehr scheint der Krieg politisch zu werden.“
Danach geht es um die ganze Spannweite zwischen klar umrissenem „idealen Krieg“ und
diffuser Politik, in die das Ideal stets eingebettet ist. Ein Ideal bleibt nur solange
ideal bis es verwirklicht wird. Du scheinst mir zu stark auf Gegensätzlichkeit zu setzen.
Cl. „hat den Krieg zwar als ,,Akt der Politik" definiert, als ein Instrument zweier
politischer Entitäten, die in Fortsetzung ihrer Politik zum Mittel der Gewalt greifen,
sein Begriff des Politischen bleibt jedoch unbestimmt und diese Unbestimmtheit wirkt bis
heute in der Rezeptionsgeschichte seiner Kriegstheorie nach. Bei Clausewitz umfasst
,,Politik" alle Organisationsprinzipien von Gemeinwesen.“
Mit Bezug auf Hannah Arendt wird im Handbuch weiter ausgeführt: "Verändert man
jedoch die Perspektive und legt einen spezifisch ,,normativen Politikbegrifl'"
zugrunde, der das Politische von auf Gewalt basierenden Organisationsformen abgrenzt,
lassen sich deskriptive Kriegsbestimmungen überwinden, um den Preis, dass Phänomene, die
oft in die politische Theorie des Krieges aufgenommen werden, nun unberücksichtigt
bleiben, weil sie nicht wirklich "politisch" sind, sondern an sich bereits
Formen politischer Gewalt darstellen. Doch gerade diese Perspektive vermag im Dickicht
rezenter Debatten, die um eine kriegstheoretische Einschätzung der immer mehr in den
Vordergrund tretenden privaten Gewalt kreisen, einen Beitrag zu leisten.“
Hinsichtlich der Idealisierung scheint Lorenzen Cl. zu folgen, hinsichtlich der
Zielsetzung eher Arendt. Wie zum Ende des Kalten Krieges hin aus der praktischen Aufgabe
eines Friedens in Wohlstand die ersten Begriffe einer meth. konstr. Wissenschaftstheorie
entwickelt werden können, hat Lorenzen ja vorgeführt. Gegenwärtig leben aber Europäer
nicht mehr in Frieden und haben sich um ihre Kriegstauglichkeit zu bemühen. Dabei denke
ich gerade an Israel, das seit 1948 von seinen Anrainerstaaten bekriegt wird (und bereits
vor 3000 Jahren bekriegt wurde).
Meiner Vermutung nach hatte die Hamas deshalb anfänglichen militärischen Erfolg, weil die
israelische Politik ihnen in die Hände spielte. Wobei die Islamo-Faschisten trotz ihrer
bestialischen Gräueltaten global viele Unterstützer und Sympathisanten hinzu gewonnen
haben. Ähnlich verhält es sich mit den Mitstreitern Russlands, die zunehmend die westliche
Politik unterwandern. In Kriegszeiten sind die Voraussetzungen für ein friedfertiges
Miteinander nicht mehr gegeben. Instrumentell-strategisches Denken wird gegenüber dem
kommunikativ-verständigungsorientierten Diskurs weiter um sich greifen.
Global gesehen halte ich das Ideal eines Friedens ohne Armut für ebenso illusionär wie
weiteres Wachstum ohne Klimawandel. Menschen führen ja auch Krieg gegen Natur. Aber was
heißt das für die Friedenssicherung? Verbleiben uns nur noch die Kriegstheorien bzgl.
eines Lebens unter Kriegen? Von Weizsäcker hatte einmal von Wegen in der Gefahr
geschrieben hinsichtlich der atomaren Bedrohung. Geht es nunmehr generell um Wege in der
Gefahr? Und welche Kriegstheorien werden dem gerecht werde können? Cl. ist lediglich ein
Klassiker unter vielen.
IT
Am 20.07.2024 um 14:47 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Genau: "„So wird also der politische Zweck als das ursprüngliche
Motiv des Krieges das Maß sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt
erreicht werden muß, als für die Anstrengungen, die erforderlich sind." Das deute
ich so: der politische Zweck ist und bleibt dem Krieg extern/äußerlich, weil sonst könnte
er ja weder als Motiv noch als Maß taugen. Von Politik und politischen Zwecken mag man
lang reden, aber solange ihnen nicht eine faktische (Kriegs-)Handlung zwischen Staaten
entspricht (an der sich diese Zwecke ihrerseits "messen" lassen müssen), ist das
reines Schwadronieren, reine Chimäre, Geschwurbel. Oder meinetwegen: reines
"Ideationsverfahren". Aber auch das hat doch im methodischen Konstruktivismus
nur Sinn, wenn es sich an der (davon unabhängigen) Pragmatik und Praxis des Forschens und
Experimentierens mißt und messen (und von ihr widerlegen) läßt. Konstruktivismus ohne
empirischen Gegenhalt ist doch ziemlich sinnlos, oder? (Im Übrigen sollte aus dem bisher
Gesagten hervorgehen, daß die juridische Lesart des Krieges, die mehr oder weniger auf der
mittelalterlichen Theorie des gerechten Krieges (bellum iustum) beruht, ja genau eine
solche "konstruktivistische" Methode ist, die sagt: tun wir doch einfach mal so,
als ob es hier rechtlich genau bestimmbare, eingrenzbare Regeln gäbe, als ob Krieg in den
"Grenzen des Rechts" möglich und sinnvoll beschreibbar wäre.) Und viel zu sagen
wäre über diese schöne Formel "Frieden ohne Armut", bricht sie doch nicht nur
mit einer mehrtausendjährigen Menschheitserfahrung (nur wer arm war, wird in Frieden
gelassen, sobald man es nicht mehr ist, hat man Neid und Krieg zu befürchten) und weil sie
die Frage nicht stellt, ob nicht Friedenssicherung gerade Reichtum erfordert (für Waffen,
mit denen man sich "schützen" kann, wie CZ sagen würde). In der Substanz soll
die Formel ja wahrscheinlich nur die Schreckensvision eines Friedens verbannen, der dann
tatsächlich nur deswegen eingehalten wird, weil alle so arm sind, daß sich keinerlei Krieg
gegen den/die Nachbarn mehr lohnt. Wo keiner was hat, was sich zu stehlen lohnen würde,
gibt’s keine Diebe mehr, klar. "Frieden aus Armut", das scheint mir ehrlich
gesagt erstmal viel plausibler.
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