Am 21.11.2025 um 11:11 schrieb Ingo Tessmann
<tessmann(a)tu-harburg.de>de>:
Ich wende mich nicht absolut „zu mathematischen Erklärungsmustern von Welt und Kosmos“
hin, sehe aber die Kunstsprache Mathematik als sehr viel weitreichender an als die
Umgangssprache. Dabei bezieht sich das Messen beim Naturforscher nicht auf Mathematik,
sondern auf Physik. Und auch die mathematische Maßtheorie ist nur ein Teilgebiet, so dass
mathematisches Denken zumeist nichts mit Messen zu tun hat. Zudem sollten besser
Lebenswelt und Weltall unterschieden werden, da Welt auch allgemein alles umfassend
verwendet wird.
Nietzsches literarisches Philosophieren und Rilkes symbolistisches Dichten sagen mir eher
zu als dogmatische Metaphysik. Was ließe sich Nietzsche und Rilke weiterdenkend über das
Verhältnis von Lebenswelt und Weltall schreiben? In der Schrift „Fatum und Geschichte“
schreibt Nietzsche 1862: „Alles bewegt sich in ungeheuren immer weiter werdenden Kreisen
um einander; der Mensch ist einer der innersten Kreise. Will er die Schwingungen der
äußeren ermessen, so muss er von sich und den nächst weiteren Kreisen auf noch
umfassendere abstrahieren. Diese nächst weiteren sind Völker-, Gesellschaft und
Menschheitsgeschichte. Das gemeinsame Centrum aller Schwingungen, den unendlich kleinen
Kreis zu suchen, ist Aufgabe der Naturwissenschaft; jetzt erkennen wir, da der Mensch
zugleich in sich und für sich jenes Centrum sucht, welche einzige Bedeutsamkeit Geschichte
und Naturwissenschaft für uns haben müssen. Indem der Mensch aber in den Kreisen der
Weltgeschichte mit fortgerissen wird, entsteht jener Kampf des Einzelwillens mit dem
Gesammtwillen; hier liegt jenes unendlich wichtige Problem angedeutet, die Frage um
Berechtigung des Individuums zum Volk, des Volkes zur Menschheit, der Menschheit zur Welt;
hier auch das Grundverhältniß von Fatum und Geschichte.“
Den Baumringen nachsinnend bekennt Rilke 1899:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Im „Panther" wie im „Torso Apollos“ verknüpft er 1902 und 1908 in Paris poetisierend
Lebenswelt und Weltall.
DER PANTHER
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Das populäre Gedicht dürfte ausinterpretiert sein, aber anlässlich des 150-sten
Geburtstages Rilkes erneut bedacht werden. Mir scheint es wesentlich durch Nietzsche und
Rodin inspiriert Rilkes beängstigende Großstadterfahrungen symbolistisch konzentriert
auszudrücken. Gleichsam als Bildhauer mit Worten kontrastiert er lebendige mit toter
Materie, Organismus mit Mechanismus. Im müden Blick des Tieres verschwimmen die einzelnen
Stäbe den Buch-Staben gleich zum Kontinuum wie zur Vagheit — und relativieren zugleich die
Bewegung. Die Tanzbewegung von Kraft ebenso wie die Kraft in der Ruhe runden die Form des
Gedichts selbst von sein zu sein.
Woody Allen lässt 1988 in „Another Woman“ eine Philosophin in der Rilke-Ausgabe ihrer
Mutter blättern: „Mit sechzehn hatte ich eine Arbeit über sein Panther-Gedicht geschrieben
und über das Bild, das der Panther sah, wenn er aus dem Käfig starrte. Und ich kam zu dem
Schluß, daß dieses Bild nur der Tod sein konnte. Dann sah ich das Lieblingsgedicht meiner
Mutter: „Archaischer Torso Apollos“. Die Seite war voller Flecken. Ich glaube, von ihren
Tränen. Sie fielen auf die letzte Zeile: „denn da ist keine Stelle, / die dich nicht
sieht. Du mußt dein Leben ändern.“ Der Torso glüht noch; denn sonst bräche nicht einer
kosmischen Eruption gleich „aus allen seinen Rändern / aus wie ein Stern:" …
IT