Moin Joachim,
Du plädierst dafür, Zenos eleatische Gedankenspiele als moralisch-theologische Denkanstöße
aufzufassen, gleichsam als Appelle zur Abkehr vom überbeschleunigten Lebenswandel. Dazu
fällt mir das mich immer wieder erheiternde Gedicht „Tour de France“ von Günter Grass ein:
"Als die Spitzengruppe
von einem Zitronenfalter
überholt wurde,
gaben viele Radfahrer das Rennen auf.“
Zeno dagegen hat seine Widerspruchsbeweise ergänzend zum Lehrgedicht des Parmenides ernst
gemeint und kann damit als einer der frühen Logiker in der Philosophie angesehen werden.
„Dasselbe nämlich ist Wissen und Sein“ ist aus dem Gedicht seines Lehrers überliefert. In
seiner „Wissenschaft der Logoi des Parmenides“ schreibt Karl Senoner dazu : „Das Verb
„sein“ als „gelten“ wird in meiner Deutung nicht nur als „gelten“ der Seinsanalyse
verstanden; die Seinsaussagen werden als geltende Aussagen in virtuellen Kontexten der
Erkenntnismittel des Denkens und der Rede verstanden. Diese Lesart ist unverzichtbar, wenn
man bei der Deutung des „Lehrgedichtes“ und des Dialoges „Parmenides“ konsistente
Zusammenhänge der Logoi erreichen möchte.“
Die verwickelten Zusammenhänge bei Parmenides und seinen Interpreten können wir hier nicht
verfolgen, wohl aber, dass Zenos Gedankenspiele nicht moralisch, sondern
erkenntniskritisch verstanden werden sollten. Anders geht es bei Grass zu, der die
natürliche Leichtigkeit eines Zitronenfalters mit dem angestrengten Abstrampeln der
Radfahrer kontrastiert. Die mühsam einen Berg hinauf ächzende Spitzengruppe hätte auch von
einer Schildkröte überholt werden können. Grass führt vor, wie das Mühelose das Bemühte
überwindet und wie absurd sich der Mensch gegenüber der Natur verhält.
IT
Am 14.07.2024 um 09:00 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Genau. Und die Sache, um die es Zeno wirklich "ging", könnte man vielleicht
nicht nur in diesem etwas achselzuckend-wegwerfenden Modus beschreiben, sondern zumindest
ein paar Augenblicke lang ernster zu nehmen versuchen, indem man Zenos eleatische
Gedankenspiele als moralisch-theologische Denkanstöße versteht. "Nur das Sein
ist" hatte ja Parmenides gesagt, und damit gemeint, alle Nicht-Sein-Aussagen (also
jedes "noch-nicht" oder "nicht-mehr") seien logisch unhaltbar, nicht
begrifflich adäquat beschreibbar. Sie halten dem Ewig-, Unverrückbar- und
Unwiderlegbarkeits-Anspruch einer allgemein-gültigen rationalen Philosophie nicht stand,
gehören also nicht zu den Aufgaben des Philosophen, lohnen sich daher nicht nur
philosophisch-denkerisch, sondern auch moralisch-praktisch nicht: sie sind verwerflich,
oder zumindest: sinn- und zwecklos. Es hat einfach für den Menschen keinen
"Sinn", will Zeno (vielleicht auch) sagen, irgendwelchen Schildkröten
nachzulaufen oder irgendwelche Pfeile irgendwohin zu schießen: kein Mensch
"überholt" in dem, was er in seinem irdischen Leben angeblich
"erreicht", auch nur eine miserable Schildkröte, kein Pfeil, den man meint,
irgendwohin zu schießen, erreicht je sein Ziel: menschliches Tun steht, aus
philosophisch-metaphysischer Warte betrachtet, unter prinzipiellem (und logisch
"nachweisbaren") Vergeblichkeitsverdacht. Zenon formuliert also, so könnte man
doch sagen, den theologischen Vorbehalt gegenüber jedweden menschlichem
Wollen/Handeln/Tun-Ideologien, zwar mit anderen Mitteln, aber prinzipiell nicht anders,
als das Kant tut, wenn er z.B. so etwas wie menschliche Moralität und
"Seligkeit" im Leben nur für eine asymptotisch annäherbare "regulative
Idee" erklärt (auch hier also: ein nie ans Ziel gelangendes
"Annäherungsverfahren"!), oder wenn Kierkegaard Glauben eben nur als
"Sprung" (und nicht als das mühsame Summieren von Teilstrecken und deren
Teilstrecken...) beschreibt. Jede Form von "Bewegung", auf die wir Menschen ja
so stolz sind ("Mobilität", politische Bewegungen, all die Leute, die immer
irgendetwas "bewegen" wollen) ist nichts als armselige Illusion: der Philosoph
hat das begriffen - und "sitzt" nur noch (wie Buddha). Denn: "Tand, Tand /
ist alles Gebilde von Menschenhand" (Fontane).
Das mal nur heute als Wort zum Sonntag. (Wir könnten ja vereinbaren, daß das leidige,
hier so leicht eskalierende Streit-Thema "Religion" immer nur sonntags
angesprochen werden darf...)
In diesem Sinn: einen schönen "monistischen" Sonntag in die Runde.
J. Landkammer