Am 30. Oktober 2021 17:01:04 MESZ schrieb Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am Sa., 30. Okt. 2021 um 15:58 Uhr schrieb Ingo Tessmann
<tessmann(a)tu-harburg.de>de>:
Die Pirahã sind hinsichtlich der Mathematik
offensichtlich nicht über das Babystadium hinausgekommen und lebten auch
ohne Mathematik womöglich zufrieden vor sich hin
— bis die Europäer kamen. Worauf es mir aber ankam, war der Verweis
darauf, dass die Mathematik vorsprachliche Wurzeln in den numerischen Kernwissenssystemen
hat und nach Lorenzen
operativ weiter sprachunabhängig erlernt werden könnte.
Das mit dem Babystadium würde ich so relativieren.
Dennoch scheint mir das Exempel recht interessant. Auch die Aussage,
dass die Pirahã die Mathematik erlernen wollten, um beim Handeln nicht
über den Tisch gezogen zu werden.
Es ist eine nicht zu rechtfertigende Spekulation, das auf die alten
Völker der uns bekannten Kulturgeschichte zu übertragen. Doch selbst
die Schrift scheint ja mehr das Ergebnis von Buchhaltung als des
Bedürfnisses, z. B. die eigene Geschichte zu erzählen oder
irgendwelche Zauberformeln korrekt aufzuschreiben.
Wobei es andererseits trivial ist, dass die erste Mathematik wohl
dafür eingesetzt wurde und nur mein eigenes Vorurteil mir glauben
machen wollte, dass die Architektur am Anfang gestanden haben sollte.
Das mit der Entwicklungspsychologie war mir zugebenermaßen neu,
erscheint mir aber sehr logisch.
Also zwei "Zahlensinne": Einer Differenziert etwa bis 3 oder 4
("exaktes System") und einer ist Zuständig für die Abschätzung von
größer/kleiner ("analoges System erlaubt nur die approximative
zahlenmäßige Unterscheidung"), wobei für mich klar ist, das eine
näherungsweise Abschätzig ausreichend sein sollte.
Jetzt frage ich mich, ob das für Raubtiere eigentümlich ist oder schon
Pflanzenfresser ...
Ich frage mich, ob man ähnliches für logische Schlußfähigkeit finden
könnte. Eine schnelle Intuition, die richtig oder falsch einschätzt
und dabei bei so etwas wie hypothetischen Konditionalen versagt und
eine schwerfällige, bildliche Vorstellung.
Logische Schlüsse als regelgeleitete Übergänge von einem Ausdruck oder Zeichengebilde zum
anderen setzen ja wohl voraus, daß man sprechen kann. Das Sammeln von Erfahrungen als
Grundlage von Erwartungen nicht. Ohne Sprache ist rational schon einiges möglich: "Ab
dem 8. Monat können sie Reaktionsalternativen wählen, ihr Tun sequenzieren, ordnen,
erinnern und Mittel-/Zweck-Verbindungen herstellen." (IT), aber mit Sprache noch
einiges mehr.
So kann ich auch ungefähr verstehen, was mit vorsprachlichen Wurzeln der Mathematik
gemeint ist: bis 3 oder 4 kann man in diesem Alter und ohne Unterricht genau
unterscheiden, darüber hinaus ungefähr. Um darüber hinaus genau unterscheiden zu können,
braucht man die oder eine Zahlenreihe. Die ist dann außer im Fall von IT nicht angeboren,
sondern ausgedacht (und weil sie das mit Worten gemein hat, würde ich sie zur Sprache
rechnen, aber man kann es nennen, wie man will). Man kann sie lernen, weil man schon
vorher einen Zahlensinn hat.
Im Gegensatz
zu unseren steinzeitlichen Vorfahren haben es die Pirahã wohl noch nicht einmal zu
Strichgruppen gebracht.
Ihre Umgebung zwangs sie nicht dazu.
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