Am 06.01.2020 um 01:18 schrieb Claus Zimmermann
<mail(a)clauszimmermann.de>de>:
Im Alltag kommt es also nicht auf Beweise an? So daß wir gar nicht zwischen Lüge oder
Irrtum und Wahrheit unterscheiden können? Das ist ja eine hochinteressante These.
Spass beiseite, mit jeder Behauptung sind natürlich die Bedingungen ihres Beweises und
ihrer Widerlegung gegeben, sonst ist sie keine, sondern vielleicht eine Definition oder
grober Unfug. Wobei ich hier mit Beweis etwas handfestes meine, nichts, das man mit einer
Rechnung oder Schlusskette vergleichen könnte. "Es regnet." Beweis: sieh aus dem
Fenster! "Auf Blitz folgt Donner!" Beweis: Vorlage der Blitzprotokolle der
Erdgeschichte oder hilfsweise einer hinreichend grossen Zahl von Protokollen. Widerlegung:
es blitzt, ohne zu donnern.
Und selbst in den Wissenschaften scheint man ja nicht nur zu deduzieren, sondern auch
Versuche zu machen, um Hypothesen zu beweisen oder zu verwerfen. Könnte man nicht sogar
sagen, daß die Versuche die Grundlage aller weiteren Deduktionen sind?
Hi Claus,
Grundlage? Gelungene Versuche tragen zur Bestätigung einer Theorie bei, Fehlversuche
schränken weitere Deduktionen ein oder führen zu einer erweiterten oder neuen Theorie.
Hinsichtlich Deiner Alltagsbeispiele frage ich mich, was normalsprachliche analytische
Philosophie mit quantitativer Experimentalwissenschaft zu tun hat? Deine Beispiele lassen
mich an Zeugenaussagen denken, denen grundsätzlich zu misstrauen ist. Das Regenbeispiel
ist natürlich harmlos. Sollte ich mich getäuscht haben (da Nieselregen häufig nicht
erkennbar ist), werde ich ggf. nass. Ansonsten können Existenzbehauptungen über die
Regionen auf der Erde, in denen es gerade regnet, den Daten der Wettersatelliten entnommen
werden.
Gewohnheitsannahmen sind keine Allsätze, die durch Gegenbeispiele widerlegbar wären.
Sollte es einmal blitzen, ohne zu donnern, war das Gewitter vielleicht zu weit weg, der
Donner zu schwach oder der Gegenwind zu stark, um hörbar zu sein. Mit LOFAR sind sogar die
das Blitzen verursachenden Ladungsverteilungen in den Wolken registrierbar, so dass die
oft bizarren Verläufe der Blitze verstehbar werden.
Alltagsgewohnheiten sind nicht mit wissenschaftlichen Behauptungen vergleichbar, da sie
nicht methodisch nachvollziehbar, sondern lediglich intuitiv, nachahmend oder manipulativ
erworben wurden. Alltagsgewohnheiten ermöglichen das naive Leben, ein Verstehen der Welt
erlauben sie nicht. Alltagsvagheit und methodische Exaktheit trennt historisch eine Art
Entwicklungssprung und systematisch so etwas wie ein Phasenübergang. Beweisende Mathematik
und funktionierende Technik sind die Kontrollparameter. Wie ich im Detail vom Anschein
eines Gewitters zur Atmosphärenphyisik gelange, werden Naturgeschichtler wohl schon
beschrieben haben.
Vielleicht wird meine Sichtweise deutlicher anhand meines Werdeganges. In der Ausbildung
zum Technischen Zeichner hatten wir die Temperatur eines Werkstücks durch Vergleich seiner
Farbe mit einer Farbtabelle abzuschätzen. Während des Ingenieurstudiums dann wurde uns das
Strahlungsgesetz erläutert, so dass wir die vormaligen Anschauungen durch Berechnungen
verbessern konnten. Erst im Physikstudium wurde der Beweis des Strahlungsgesetzes
vorgeführt, so dass seine Einschränkungen und Idealisierungen diskutiert werden konnten.
Die nächste Stufe auf der Leiter des Verstehens wäre der nicht nur semiklassische Beweis
der Hawkingstrahlung nach der gelungenen Synthese von Quanten- und Relativitätstheorie. Je
nach Genauigkeitsgrad und Gültigkeitsbereich können also vier Tatsachenebenen
unterschieden werden, die nicht in einen Topf geworfen werden sollten (wobei der
experimentelle Nachweis der Hawkingstrahlung noch aussteht und die rein qualitative
Alltagserfahrung bsp. eines rot glühenden Heizstabs die 1. Stufe bildet).
Es grüßt,
Ingo