Am 11. Dezember 2017 um 10:01 schrieb Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>
:
Doch was nützt
es mir, wenn ich im Recht bin und der Rest meiner
Gesellschaft mir nicht recht gibt?
Das unterscheidet halt Demokratie von Wissenschaft und Du kannst nur auf
Toleranz und Minderheitenschutz hoffen.
*Wenn* wir davon ausgehen, dass es den Unterschied zwischen richtig und
falsch auch im Bereichen der Ethik usw. gibt, *dann* ist das nicht so. Es
mag die Mehrheit der gesellschaft fundamental andere Auffassungen
vertreten, am Ende kann die Wahrheit jederzeit gefunden werden und kommt
bei hinreichender Nachforschung ans Licht.
Da ist also überhaupt kein Unterschied mehr zu den Naturwissenschaften.
Ich finde nämlich, dass dem stimmenden Wissen oder der
wissenschaftlichen
Wahrheit viel zu wenig Ehrerbietung entgegengebracht und stattdessen viel
zu viel ideologischer oder religiöser Schwachsinn geglaubt oder für heilig
gehalten wird. Und das verhindert ja auch außerhalb der Wissenschaft
zumeist jegliches sinnvolle Diskutieren geschweige denn Argumentieren.
Komisch, aus meiner Perspektive vertauschst du hier klar Ursache und
Wirkung.
Gewisse Arten von "Wissen" (Glauben mit fester Überzeugung) werden deshalb
so unideologisch gesehen, weil sie eben *nichts weiter* als eine Art
Instrument sind. Bei einem Werkzeug will man, das es funktioniert, höhere
Ansprüche daran stellt man nicht.
Deshalb ist es auch z. B. (soweit ich weiß) im ehemaligen Ostblock so
gewesen, dass zwar politische (trivial), philosophische und historische
Werke auf einen DiaMat-Standpunkt verdonnert waren (*,
naturwissenschaftliche Texte aber waren akkurat und zutreffend. Eben weil
man diese als ein nützliches Werkzeug sah und deshalb keine ideologischen
Maßstäbe anlegte.
Das ist aber sofort vorbei, wenn es vom Werkzeug-Charakter zur Legitimation
von Handlungen wird. Dann springt die Ideologie mit aller Macht wieder ins
Spielfeld. Das ist aktuell bei der Klimaforschung so, war vor 100 Jahren
wahrscheinlich beim Streit zwischen manchen Lamarkianern und Darwinisten so
(Natur als Wettbewerb vs. Natur als Kooperation) und lange Zeit davor beim
Galilei und Co.
Wobei letzterer Fall besonders interessant ist, weil die Bedrohung für die
herrschende Lehre nur sehr abstrakt war. Das ist bei späteren Ideologen
eher nicht der Fall gewesen. Die haben nur zugeschnappt, als es akut wurde.
Es gibt eben gewisse Wissensbereiche, wie die Ethik, Jura usw., auf denen
die Ideologie naturgemäß wesentlich stärker ist. Für keinen Herrscher
bricht sein Weltbild zusammen, wenn die rein physikalische Funktionsweise
von Sternen anders beschrieben werden muss. Wenn er aber zu unrecht Macht
ausübt, dann wird er eine Ethik als direkten Angriff auffassen.
*Angemerkt: Grade die Philosophie *lebt* von der Freiheit. Mehr noch als
jede andere Tätigkeit, kann sie nur in vollständiger Gedankenfreiheit
ausgeübt werden. Sie ist deshalb vielleicht keine Vorausssetzung oder
Ursache für Freiheit, aber ein Symptom.
Soweit ich aber weiß gab es im Osten noch ein weiteres Gebiet, das nicht
streng nach DiaMat verlief, jedenfalls über die meiste Zeit: Die Kunst.
Beispielsweise ein Lem oder andere Autoren hatte eine gewisse Freiheit,
solange sie nicht über die Strenge schlugen.
Und dann denk nur mal daran, wie stark
Klickhäufigkeiten im Internet uns
zunehmend manipulieren. Auch die hochabstrakte Algebraische Geometrie
ebenso wie die Zahlentheorie spielen im Internet-Alltag eine große Rolle,
da Verschlüsselungsverfahren aus ihnen gewonnen werden. Physik ist für die
Hardware grundlegend, Mathe aber für das weite Feld der Software.
Nebenbeibemerkt: Nicht-Euklidische Geometrie spielt eine Rolle für die
Gestaltung der Farbräume in den Computerspielen. Für die Farbphysik hatte
schon Schrödinger seinerzeit die Riemannsche Geometrie herangezogen.
Du siehst offensichtlich die von dir geschätzte Mathematik angegriffen und
willst sie mit den Hinweis "nützlich ist sie doch" verteidigen. Das geht
aber an meinen Einwand vorbei. Die Nützlichkeit habe ich eben niemals
bestreiten wolle.