Am Mo., 20. Mai 2019 um 14:07 Uhr schrieb Claus Zimmermann:
Du sagst, daß es am Anfang der Demokratie nicht demokratisch zugeht. Das ist wie gesagt
insofern nicht möglich, als es noch keine Regeln gibt, an die man sich halten könnte. Aber
es ist ein Unterschied, ob man sich dabei einigermaßen im Sinn der späteren Regeln oder
eher diktatorisch verhält. Im zweiten Fall würde ich dir recht geben. Aber auch im ersten
meinst du ja: diejenigen, die sich das nicht ausgedacht haben und vielleicht einfach in
Ruhe weiter Ackerbau und Viehzucht treiben wollen, werden da plötzlich in irgendetwas
ihnen fremdes verwickelt, zu dem sie jetzt Stellung nehmen sollen. Ist das vielleicht
demokratisch oder grenzt es nicht an eine Vergewaltigung? Wenn es nicht so wie im zweiten
Fall abläuft, ist es das normale Leben. Wer das nicht will, sollte auf eine einsame Insel
ziehen. Da wird er nicht mit neuen Ideen behelligt. Man könnte ja auch umgekehrt sagen:
die Vorstellung, daß das Leben stillzustehen habe, ist eine Zumutung für die etwas weniger
trägen Naturen. Die Anhänger der früheren Lebensweise sollen das Recht haben, sich
herauszuhalten, das aber nicht für allgemein verbindlich erklären dürfen.
Claus
Ich versuche in dieser E-Mail auch auf die letzte E-Mail zu antworten.
Nehmen wir einmal an, dass jemand über abstrakte Grundsätze
(Kategorischer Imperativ, Größtmögliches Glück, geringstmöglichstes
Leid) anderen Leuten etwas vorschreibt. Dies kann man als Problem
betrachten, da diese Grundsätze möglicherweise von den Betroffenen gar
nicht akzeptiert werden oder weil diese Gegensätze eben nichts mit den
Leben dieser Personen zu tun haben. Nebenbei bemerkt, wenn die
konsequente Verfolgung eines Grundsatzes diesen absurd scheinen lässt,
dann kann man dies durchaus als ein indirektes Argument GEGEN diesen
Grundsatz interpretieren.
Wenn wir jetzt eine Stufe weitergehen und sagen, gut, dann gilt eine
Norm nur, wenn die Betroffenen auch Zustimmen.
Dabei stellt sich dann die Frage, in wie weit man diesen Grundsatz
wiederum für gutheißen kann.
Um auf dein Beispiel der Person einzugehen, der gewisse Leute in der
Rechtsordnung diskriminieren will: Dieser Person könnte man mit Hobbes
antworten, dass diese diskriminierten Gruppen dann am
"Friedensvertrag" zur Gründung der Gesellschaft nicht mitmachen
könnten. Von vornherein sind wir erst einmal gleich, denn jeder ist im
Besitz seiner souveränen Macht und muss diese erst abtreten.
Natürlich könnte diese Person den rein moralischen Standpunkt
ablehnen, das raffinierte an der Argumentation des
Gesellschaftsvertrages ist aber doch, dass man hier die Moral auf
gewissen andere Erwägungen (Strategie usw.) zurückführt. Es könnte ja
sein, dass diese Person gewisse Mitglieder des Verfassungskonventes
zwar verachtet, aber dennoch eine Zusammenarbeit als notwendig
ansieht, weil er sonst eben keine Verfassung ausarbeiten kann.
Du fragst:
"Wenn man aber meint, soweit Begründungen zu schulden, bis man seine
Karten aufgedeckt hat, impliziert das nicht schon eine Präferenz für
demokratische Verfahren, herrschaftsfreien Diskurs und gegen den
Holzhammer?"
Gesetzt den Fall, wir akzeptieren einfach so, was irgendein weiser
Mann, ein König oder eine Partei, die zufällig grade die Mehrheit hat,
sagt. In dem Augenblick, hören wir dann nicht auf zu philosophieren
oder sogar überhaupt zu denken?
Jedenfalls wird es dann unsinnig, nach einer Rechtfertigung für
Herrschaft zu fragen, weil man das Denken selbst schon unter
Herrschaft gestellt hat.
Ich vermute, weiter kommt man aber, wenn man den Punkt selbst in Frage
stellt: Wann habe ich denn meine Karten auf den Tisch gelegt? Könnte
ich mir nicht, zumindest theoretisch, eine noch abstrakte
Rechtfertigung für meine Überzeugungen zurechtlegen?
Nehmen wir ein Beispiel aus der Geschichte der Philosophie, nehmen wir
Spinoza. Der schien auch davon überzeugt gewesen zu sein, dass im
Naturzustand jeder erst Mal alles tun darf, was er auch tun kann, aber
dabei sind seine Karten ja nicht auf den Tisch gelegt. Er versucht ja
erstens diese sehr fragwürdige Nicht-Moral auf noch elementarere
Grundsätze zurückzuführen. Auf Prämissen, er spricht explizit von
Axiomen und Postulaten, über das Glück, die menschliche Psychologie,
Gott und Substanz, Kausalität und menschliches Erkenntnisvermögen.
Aus meiner Sicht sind schon diese Axiome zumindest problematisch. Die
Auffassung von Kausalität scheint mir durch Hume und auch die moderne
Naturwissenschaft fragwürdig geworden zu sein.
Ein sehr intelligenter, gebildeter und philosophisch gesinnter (= er
will die Wahrheit mit Argumenten zeigen und nicht nur ein Leben im
Sinne des Meisters führen) Spinozist könnte jetzt wiederum
gegenhalten, dass ich die naturwissenschaften falsch interpretiere und
Humes Argument falsch sei. Das man im Grunde die Wirkung aus der
Ursache her erkennen könnte.
Dabei würde er vielleicht gewisse Modifikationen am System seines
Meisters durchführen, aber er würde die Diskussion im Grunde auf eine
wissenschaftstheoretische Ebene verlagern.
Insofern bleibt die Option offen, dass der Anhänger des Rechts des
Stärkeren vielleicht in der Hinterhand gewisse Grundsätze hat, die man
doch mit ihn teilt und das dort vielleicht doch ein Austausch möglich
ist.