Am 14.12.2020 um 20:59 schrieb Joseph Hipp via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Auch hier triffst du den Nagel auf den Kopf. Ich bin zudem ständig auf der Suche nach den
Fehlern. Zum Beispiel: Wo war der Fehler vor Alfred Wegener? Wo war der Fehler vor
Albrecht Ludwig Berblinger. Glaubten etwa zu viele an das Falsche oder war die
Wahrscheinlichkeit im Spiel, so wie es Sokrates im Phaidros-Dialog des Plato behauptete?
Der praktische Fehler des Berblinger ist ja bekannt, nur wo war der Fehler vor ihm, der
machte, dass niemand glauben konnte, man könnte fliegen?
Hi Joseph,
die Geschichte der Erdkunde und des Fliegens können wir hier nicht abhandeln. Ich hatte
mich auf das Paradigma der quantitativen Experimentalwissenschaft bezogen, wie es seit
Galilei in der Physik entwickelt worden ist. Seitdem sind Fehler die Ausnahme, vorher
waren sie die Regel. Beginnen wir mit Wegener. Im Skript "Grundlagen der Geo- und
Astrophysik“ der Uni Braunschweig ist zu lesen: "Bereits im Jahre 1912 hat der
Geowissenschaftler Alfred Wegener erste Gedanken zu seiner Hypothese der Kontinentaldrift
vorgestellt. Er hatte richtig erkannt, dass die Kontinente sich relativ zueinander
bewegen.
Seine Theorie fand allerdings erst 1960 internationale Anerkennung, weil nach seiner
Vorstellung die Kontinente sich durch die starre Kruste `pflügten', und er keine
Erklärung für den physikalischen Mechanismus liefern konnte, der die Kontinente antrieb.
Erst 1960 wurden die geowissenschaftlichen Indizien für die Kontinentaldrifthypothese so
überzeugend, dass man sich seiner Idee nicht mehr verschließen konnte. Nach heutiger
Vorstellung `schwimmen' die starren Lithosphärenplatten auf der zähflüssigen
Asthenosphäre, und werden durch die Konvektion im Erdmantel angetrieben.“
Vorurteile und Denkmodelle verhindern oft in Verbindung mit der Vermeidung kognitiver
Dissonanz die Anerkennung neuer Denkansätze oder sogar der Fakten, die im Falle Wegeners
erst Jahrzehnte später hinreichten für eine Theorie, die den Namen verdient. Beim Fliegen
nach dem Vorbild des Vogels war es ähnlich; das erst 1889 mit Otto Lilienthal begann,
theoretisch wie experimentell untermauert zu werden. Sein Klassiker "Der Vogelflug
als Grundlage der Fliegekunst.
Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik“ ist ebenso wie die Kontinentaldrifttheorie
innerhalb der Newtonschen Physik verortet. In der geht es bei dem Verständnis von
Bewegungen ja darum, die sie bestimmenden Kraftgesetze zu formulieren.
Da elementare Funktionen beliebig genau durch Potenzreihen angenähert werden können,
lassen sich stets passende Kraftgesetze für die fraglichen Bewegungen formulieren. Diese
mathematische Beliebigkeit hat Einstein in der Physik nicht akzeptiert und ist in der
Gravitationstheorie ja mit seiner notwendig vollständigen Feldgleichung sehr erfolgreich
geworden und sogar noch weit übers Ziel hinausgeschossen; denn die sich als Schwarze
Löcher zeigenden Singularitäten sprengten wiederum die schöne Theorie und Einstein
versuchte sie ‚auszugrenzen‘. Und was hätte Adorno ironisch dazu angemerkt? "Der
Immanenz ist die Transzendenz immant".
Im Gegensatz zur Stömungsmechanik, nach der die tollsten Flugzeuge gebaut werden können,
steckt eine umfassende Theorie des Erdkörpers noch in den Anfängen, ebenso wie die
Erdsystemforschung insgesamt. Erdbeben und Vulkanismus, die Fluktuationen und Umkehrungen
des Erdmagnetfelds werden so lange unverstanden bleiben bis detailliert alle Bestandteile
und Bewegungen im Erdinnern erfassbar und verstanden sind.
Der Fehler Berblingers bestand also darin, dass er nicht systematisch unter kontrollierten
Bedingungen experimentierte. Das bewerkstelligte erst Lilienthal. Und vor etwa 1960 gab es
offensichtlich zu wenig geowissenschaftliche Indizien, um die eine Hypothese als richtig
auszuzeichnen. Heute lassen sich nicht nur Flugzeuge rein rechnerisch entwickeln, sondern
auch die Kontinentaldriften können über lange Zeiträume abgeschätzt werden.
Zum Schluss interessiert es mich natürlich, warum Du überhaupt eher auf der Suche nach
Fehlern bist als danach, wie es richtig zugeht? Denn treten Fehler nicht ganz von selbst
auf, so dass es darauf ankommt, sie zu beseitigen?
Es grüßt,
Ingo