Am Mo., 10. Feb. 2020 um 14:12 Uhr schrieb K. Janssen via Philweb
> Da ich als 15jähriger erfahren musste, dass ich
nicht ernst genommen wurde, kenne ich das Gefühl nur
> all zu gut. Selbstverständlich war ich nicht fähig die Fehler in Global 2000 zu
entdecken, die der Bericht zweifellos hatte, dazu fehlte mir
> Wissen und Erfahrung, aber ich war auch nicht so naiv, wie du das hier unterstellst.
Ich möchte mir diesen, für mich interessanten Punkt herausgreifen und
hierzu einige Gedanken anstellen.
Unsere Gesellschaft ging traditionell von folgender Hypothese aus:
Der Mensch wird geboren und ist in diesem Zustand zunächst einmal
vollständig hilflos. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Das
Neugeborene ist nicht im Stande, die Welt zu erkennen und sein seine
eigenen Gedanken dazu zu formen. Daher braucht es die Eltern.
Das ändert sich im Laufe der Jahre, aber bis zu einer letztlich
willkürlichen Altersgrenze, heute ist es das 18 Lebensjahr, vorher
häufig das 21, bei den alten Preußen meines Wissens sogar 25, ab da
geht der Staat und die Gesellschaft plötzlich davon aus, dass der
junge Mensch nun "reif" und in der Lage sei, selbstständige
Entscheidungen zu treffen. Ein 15 jähriger kann laut der deutschen
Gesetzgebung z. B. rechtsgültige Verträge abschließen, aber diese sind
"schwebend unwirksam" ohne die Zustimmung der Eltern. (Die rechtlichen
Details spare ich aus.)
Nun basiert diese Hypothese auf den Konzept der "Mündigkeit". Was ist
nun "Mündigkeit"?
Mündigkeit in diesem Sinne bedeutet die Fähigkeit, so denke ich, die
Folgen der eigenen Handlungen halbwegs vorhersehen und eine
eigenständige Bewertung dieser vornehmen zu können. Letzteres ist ja
nur ein Unterpunkt darunter, sich seines Verstandes ohne Anleitung zu
bedienen, womit wir wieder mal bei Kant wären.
Anhand eines praktischen Beispieles wird wohl klar, worauf das
hinausläuft. Der 15jährige kann sich ein Autorad kaufen und damit
durch die Stadt fahren, genauso wie der 35jährige. Der Unterschied ist
aber, dass man davon ausgeht, dass der 15jährige die Folgen seiner
Handlungen noch nicht vollständig moralisch abschätzen kann. Er ist
quasi in bestimmter Hinsicht "unzurechnungsfähig".
Er ist sozusagen im Gebrauch der Freiheit ungeübt und macht daher
typische Anfängerfehler und um die Folgen dieser abzuschwächen,
gewährt der Staat und die Gesellschaft gewisse Ausnahmerechte, eben
das er von Verträgen zurücktreten kann, indem seine Eltern die
Zustimmung verweigern, dass er in gewisser Weise noch unter
Vormundschaft steht usw.usf.
Die Grenze des 18. Geburtstages ist natürlich willkürlich und deshalb
sehr wohl angreifbar. Dieses gesamte Konzept von Mündigkeit scheint
mir in unserer heutigen Gesellschaft zunehmend angegriffen zu werden
und zwar in zwei Richtungen:
1. Wird darüber diskutiert, schon 16 Jahre Alten Mitbürgern das Recht
einzuräumen, an öffentlichen Wahlen teilzunehmen. Man vergegenwärtige
sich das: Jemand, der am Kiosk nicht mal ein Comicheftchen kaufen kann
oder der auf [Plattform einfügen] kein Computerspiel kaufen darf, soll
gleichzeitig in der Lage sein, die weitere Entwicklung des
Gemeinwesens ein Stück weit mitzubestimmen. Fehlt ihn nicht die
Lebenserfahrung, die moralische Reife und/oder sogar den Vernunft, um
solche Entscheidungen verantwortungsvoll treffen zu können?
2. Auf der anderen Seite werden auch formal bereits mündige Menschen
zunehmend wieder unter Vormundschaft gestellt. Ein klassisches
Beispiel ist die Debatte um das Nudging oder den "libertären
Paternalismus". Wenn z. B. ein erwachsener Mensch sich "ungesunde"
Lebensmittel kauft, dann ist das kein Akt freier Entscheidung, die man
nun mal akzeptieren muss, sondern dann sollte man etwa die gesunden
Lebensmittel ganz vorne ins Regal stellen oder ungesunde schwerer
zugänglich machen, um Hemmschwellen aufzubauen. Im Grunde genommen ist
das eine Bevormundung, weil man hier davon ausgeht, dass man die
Entscheidung besser treffen könnte als der Betroffene selbst.
Ein weiteres Beispiel für diese Tendenz wäre die Ausdehnung des
Jugendstrafrechts bis teilweise ins 30 Lebensjahr.
Was mir auch aufgefallen ist, ist die Tendenz, wie selbst erwachsene,
eigentlich halbwegs gebildete und intelligente Menschen von ihren
eigenen Gefühlen in psychologischen Begriffen reden: "Das senkte meine
Motivation und deshalb wurde ich depressiv" oder dergleichen. Statt
solche Formulierungen zu gebrauchen: "Ich hatte keine Lust mehr und
dann ist mir alle Lust vergangen". Man redet über sich selbst wie über
ein Naturphänomen, dabei verliert man aber eben das Subjekt, das sich
verantworten muss.
Um mich einer pathetischen Formulierung zu bedienen: Es geht dabei aus
meiner Sicht nicht nur um eine Detailfrage, sondern eventuell um das
Scheitern der gesamten Aufklärung als Programm.
P.S.: Auf die Gefahr hin, die Liste zu langweilen. Philip K. Dick hat
die letztliche Willkürlichkeit von Altersgrenzen und ähnliche
Kriterien in seiner Kurzgeschichte "The Pre-Persons" (Die Präpersonen)
von 1974 satirisch aufs Korn genommen. Aufgepasst, die Kurzgeschichte
ist nichts für sensible Gemüter und beinhaltet noch einige andere
Thematicken, die alle sehr kontrovers in unserer Gesellschaft sind.
P.P.S.: Den IQ halte ich als Maßstab auch aus verschiedenen Gründen
für nicht geeignet.