Hallo,
also ich arbeite mich zurzeit eher träge und abgelenkt, wie ich selbst
zugebe, durch ein Paper, auf welches mich Ingo dankenswerterweise
hinwiese.
Es handelt sich um eine Habilitation (das ist so eine Art Dissertation
für Professoren ;-) über Kausaltheorie. Der Text ist umfangreich und
enthält z. T. Dinge, die nicht unbedingt zu unserer Diskussion
gehören, wie ich finde. Dennoch werde ich, sobald ich ihn durch habe,
eine Antwort verfassen. Die Qualität wird wie immer relativ
bescheiden, das weiß ich.
Der Streit zwischen dir und Waldemar scheint mir, soweit ich es
überblicke, der uralte Streit zwischen Gläubigen und Atheist zu sein.
Von einem abstrakten, also "philosophischen" Standpunkt aus stellte
sich diese Frage im Prinzip schon im Altertum. Nur scheint es damals
so etwas wie direkten Atheismus nicht gegeben zu haben. Konkret ist
der Streit tatsächlich auf das 18. Jahrhundert in Europa
zurückzuführen und neuerlich eskaliert durch 09/11. Das Ereignis, das
vor einigen Wochen und genau 20 Jahren stattfand, wurde explizit und
unmissverständlich durch die Urheber religiös begründet.
Das hat dann bei manchen Atheisten zur Überzeugung geführt, man würde
eine utopische oder zumindest bessere Gesellschaft erreichen, wenn nur
die lästige Religion nicht wäre. Der Eindruck wird noch verstärkt
durch den Meinungsstreit zwischen den religiösen Rechten und den
säkularen Meinungsspektrum in den USA, der ja grundsätzlich bis heute
weitergeht.
Das alles hat sich inzwischen verästelt und zerfasert. Wie immer bei
einer neuen Bewegung, die ihre Grundsätze erst zu formulieren sucht.
Da scheiden sich dann bald die wahren von den echten und den
eigentlichen Anhängern. Stichwort wäre "Brights", Dawkins und so fort.
Wie zu erwarten entdeckt man schnell, dass man weniger Gemeinsamkeiten
hat, als man vielleicht glaubt, zumal das Glaubensbekenntnis rein
negativ ist. Man ist sich einig, an was man nicht glaubt, was man aber
tatsächlich für richtig annimmt, da ist man sich nicht sicher. Das
Bestehen darauf, nur an "gesicherten Wissen" festzuhalten macht den
Streit nur schärfer.
Ich nehme an, wenn man das Ganze philosophisch analysiert, erhält man
eine enorme Tiefe der Gabelungen: Gott Ja/Nein, Entscheidbarkeit
dieser Frage Ja/Nein, falls ja ist die entschieden ja/nein, falls nein
kann sie praktisch entschieden werden... Falls sie entschieden ist,
auf welchen Wege...
Auf dem anderen Ast dann: "Kommt Moral von Gott?" Ja/Nein, falls nein,
woher dann und dann haben wir das ganze Spektrum der Moralphilosophie
eröffnet. Es scheint nun, dass jemand, der glaubt, dass alle Moral
sich von Gott herleitet, fast automatisch Gläubiger sein muss. Dem ist
aber in der Praxis nicht so. Beispielsweise kann man Nietzsche in
diese Richtung interpretieren oder es gibt so etwas wie eine
"Gott-ist-tot"-Theologie in verschiedenen Formen. Das lässt sich
hervorragend mit einer Irrtumstheorie der Moral verbinden. Wir haben
bisher fälschlich geglaubt, dass "Es ist gut, dass X" etwas über die
Welt ausdrückt, in Wahrheit ist das aber nur der Rest einer
natürlichen Theologie, welcher die Gesetzgebung Gottes aus der Natur
herleiten will.
Da es diese Gesetzgebung aber nicht gilt, folgt zwingend, dass man
auch keine Wahrheit hinter Sollsätze finden kann.
Der Philosoph aus obigen Beispiel stellt sich bin, nimmt jede nicht
zwingend logische Annahme und fragt bei ihr "Ist das richtig, Ja oder
nein?". Am Ende hat man zwar eine sehr differenzierte Analyse aller
denkbaren Positionen, doch beschleicht einen der Verdacht, dass es
viele außerhalb des akademischen Rahmens gar nicht gibt.
Wichtig ist schon mal festzustellen, dass es viele Atheisten,
Freidenker oder "Heiden" mit hervorragender Moral gibt. Sofern man den
Glauben nicht einfach selbst als höchste Tugend nimmt, den die alle
nicht haben.
Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass eine christliche
Grundposition bestimmte weltanschauliche Optionen einfach ausschließt,
wegen Gottesebenbildlichkeit usw.
Es tut mir leid, dieses Beispiel bringen zu müssen, aber... Es scheint
mir nicht aus dem bloßen christlichen Kredo zu folgen, ab wann ein
Fötus "Mensch" wird oder welches Wirtschaftssystem eine Gesellschaft
präferieren sollte.
Der Streit zwischen Atheisten und Gläubigen ist letztlich in der
Philosophie durchaus gut aufgehoben, jedenfalls besser als vor Gericht
oder vor schlimmeren Orten. Nur sollte man sich bewusst sein, dass
sowohl Gläubige als auch Atheisten zur Wissenschaft und Philosophie
beigetragen haben.
Gödel, Wittgenstein oder Kripke beispielsweise glaubten an einen Gott,
dagegen Russell und viele andere nicht.
Das selbe gilt vom Bereich der Kunst, gilt selbst für triviale
Beispiele aus dem alltäglichen leben.
Mit freundlichen Gruß
der, wie immer Ratlose.