Was könnte man unter einem Satz verstehen, dessen Wahrheitsgehalt
niemand feststellen kann?
Den Satz "es regnet" verstehe ich frei nach dem Wiener Kreis sowie einer
allgemein bekannten Binsenweisheit, wenn ich weiß, was Regen ist. Man
muss es mir zeigen oder beschreiben. Dann kann ich feststellen, ob er an
einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zutrifft oder nicht.
Vielleicht verstehe ich die Erklärung in einem komplizierteren Fall
nicht auf Anhieb. Dann weiß ich nicht, was ich überprüfen soll, kann
nicht feststellen, ob der Satz wahr oder falsch ist und frage nach, bis
die Unklarheit beseitigt ist.
Das gleiche gilt für den Satz "Auf dem Berg B wächst die Pflanze P.".
Die Überprüfung seines Wahrheitsgehalts könnte aber daran scheitern, daß
es niemand schafft, auf diesen Berg zu klettern. Dann hätten wir es mit
einem Satz zu tun, dessen Wahrheitsgehalt wir derzeit nicht überprüfen
können, aber nicht mit einem prinzipiell nicht nachprüfbaren.
Claus
Am 08.12.2019 um 14:22 schrieb Rat Frag:
Sehr geehrte Damen und Herren,
diesmal nur ganz kurz und als Diskussionseröffner. Dies ist im
weitesten Sinne als "Kritik" oder Antwort-Schrift zu verstehen.
Ich wurde darauf aufmerksam, dass es vor kurzem eine Art Preisfrage
oder "Essaywettbewerb" zum Thema "bestes Argument gegen den
Redukionismus" gab.
In diesem Rahmen wurde ein Text publiziert, aus dem ich hier gern
auszugsweise zitieren möchte:
„Alonzo Church hat in einem anonymen Gutachten [...] einen
Gedankengang entwickelt, der zeigt, dass es (wenigstens) eine Wahrheit
gibt, die niemand wissen kann, wenn es eine Wahrheit gibt, die niemand
weiß. Denn [...] wenn es eine Wahrheit gibt, die niemand weiß, dann
kann niemand wissen, dass diese Wahrheit wahr ist und von niemandem
gewusst wird.“ (1)
Die Argumentation basiert also auf dem, was man das "Fitch-Paradox" nennt:
https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Fitch%27s_paradox_of_knowability…
Der Autor wendet diesen etwas überraschenden, aber wohl stimmigen
Gedankengang nun auf das Gebiet der Erklärungen an. Hier begegnet uns
ein Moment, der mir einige Zweifel weckt:
„Denn wenn es eine Wahrheit gibt, die niemand vollständig erklärt,
dann kann niemand vollständig erklären, warum diese Wahrheit wahr ist
und von niemandem vollständig erklärt wird. Denn wenn jemand
vollständig erklären würde, warum diese Wahrheit wahr ist und von
niemandem vollständig erklärt wird, dann würde jemand vollständig
erklären, warum diese Wahrheit wahr ist, und dann würde jemand
vollständig erklären, warum diese Wahrheit von niemandem vollständig
erklärt wird.“ (2)
Meines Erachtens kann man meinen Zweifel am Besten wie folgt
formulieren: Ist es wirklich so, dass man die "vollständige Erklärung
einer Wahrheit" gleichsetzen mit der "vollständigen Erklärung, warum
eine Wahrheit wahr ist"?
Eventuell liegt hier eine Verwechselung der epistemologisch
Rechtfertigung und der kausalen Erklärung vor. Um mit, ich glaube,
Schopenhauers Worten zu sprechen, Daseins- und Beweisgrund werden in
eins gesetzt.
Es könnte doch sein, dass man die Wahrheit eines Satzes sehr wohl
begründen kann, aber dennoch keine vollständige Erklärung hat. Nehmen
wir einen Fall, den wir wohl alle kennen. Das Kind fragt die Mutter
"fällt den jeder schwere Gegenstand zu Boden"? Die Mutter sagt, dass
das der Fall ist. Einige Zeit später fragt das Kind, ob denn auch der
Mond auf die Erde falle. Natürlich kann die Mutter hier sagen "der
Mond fällt nicht auf die Erde" und spricht damit eine Wahrheit aus
(3).
Eine vollständige Erklärung dieses Vorganges würde aber einen
vertiefenden Einblick in das Gravitationsgesetz, in Messungen über die
Bewegung des Mondes und vielleicht auch einen historischen Rückblick
auf die Entstehung unseres Sonnensystems, in die Phase, in der der
Mond entstand und seinen Bewegungsimpuls bekam, voraussetzen. Es kann
nun aber sein, dass die Mutter diese ins Detail gehenden
naturwissenschaftlichen Erklärungen gar nicht kennt, aber aus
Erfahrung weiß, dass der Mond nicht auf die Erde herabfällt.
Nehmen wir aber an, dass das Kind die Mutter danach etwas anderes
fragt, "Feiern wir eigentlich jedes Jahr Karneval"? Auch hier kann die
Mutter wahrheitsgemäß antworten "Ja". Wenn wir das Kind nun weiter
fragen lassen, warum wir denn Karneval feiern, dann könnte die Mutter
dem Kind unter Umständen eine (oberflächliche) kulturhistorische
Erklärung geben, die darauf hinausläuft: Wir wissen es nicht. Der
Brauch, Karneval zu feiern ist sehr alt und stammt aus einer
quellenarmen Zeit, in der solche Entwicklungen im Leben der einfachen
Leute schon gar nicht aufgeschrieben wurden.
Hier haben wir also den Fall, dass die Mutter dem Kind zugleich
erklärt: Ja, wir feiern Karneval jedes Jahr, die Wahrheit dieser
Aussage lässt sich erklären, d. h. schlüssig begründen, aber man kann
nicht genau erklären, wieso wir eigentlich Karneval feiern.
Mag sein, dass meine Zweifel lediglich auf einen Missverständnis oder
mangelnder analytischer Durchdringung (eventuell wegen intellektueller
Limität?) beruhen.
Dennoch, auch nach einiger Zeit des "darüber Nachsinnens" scheint mir
der Gedankengang nicht vollständig schlüssig.
Die formallogische Rekonstruktion des Arguments in Anhang 6.1 räumt
meine Zweifel ebenfalls nicht aus (4). In der Formalisierung wird der
Irrtum übernommen. Ich werde an dieser Stelle keine alternative
Formalisierung zu erzeugen versuchen, es ist für die Gültigkeit meines
Gegenargumentes nicht erforderlich.
Nur um das noch mal kurz klarzustellen: Die Stoßrichtung der Kritik
ist keine Verteidigung des Reduktionismus. Es kann sehr wohl sein,
dass der Reduktionismus falsch ist. Es geht mir ausschließlich um die
Frage, ob dieses Argument uns zeigen kann, dass der Reduktionismus
falsch ist.
Was denkt ihr darüber?
Mit freundlichen Gruß
Der, mal wieder, Ratlose.
Quelle:
(1)
Titel: Unerklärliche Wahrheiten
Autor: anonym (?), keine Angabe
Veröffentlichung: ??.??.2019 im Rahmen des vom Kurt Gödel
Freundeskreis Berlin ausgeschriebenen "Kurt Gödel Preis 2019"
Link:
https://kurtgoedel.de/cms-83FO/wp-content/uploads/2019/11/Unerkl%c3%a4rlich…
Fundstelle, Seite 6, zweiter Absatz, Gliederung "3.1. Es gibt
unerklärliche Wahrheiten".
(2) ebenda, Seite 7, erster Absatz, "3.1. Es gibt unerklärliche Wahrheiten".
(3) Um pedantisch zu sein: Da der Mond sich in seiner "Kreisbewegung"
von der Erde wegbewegt, kann von einem Fallen nicht die Rede sein. Die
Bewegung des Mondes beschreibt also eine Spirale von der Erde weg,
wenn auch eine extrem langsame.
(4) ebenda, Seite 18 ff.