Am 16. Juli 2024 21:15:30 MESZ schrieb "Landkammer, Joachim über PhilWeb"
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Die kontraintuitive Clausewitz-Formel, die man heute in
der Tat als "Täter-Opfer-Umkehr" zurückweisen würde, will m.E. gerade den
moralisch (und in der Folge: (völker)-rechtlich) konnotierten Begriff des
"Opfers" und des "Angreifers" vermeiden. Sie fragt: wie entsteht ein
Konflikt? Und ein Konflikt entsteht doch genau genommen erst, wenn B nicht will, was A
will. Der Angreifer A will ja eigentlich gar keine Gewalt ausüben, er will sich etwas
nehmen (daß ihm das nicht gehört oder nicht zusteht, ist dabei sekundär). Wer das
verhindern will (aus genau diesen für ihn "legitimen" oder auch anderen
Gründen), initiiert den Konflikt, wird damit faktisch zum Erstanwender von Gewalt, und
zwar sogar bewußt und willentlich (denn er könnte ja auch einfach dem Wollen von A
nachgeben, er könnte gewaltabstinent bleiben, er könnte "auch die andere Backe
hinhalten", usw.). Er wählt Gewalt als die für ihn offenbar günstiger eingeschätzte
Handlungsalternative zur sofortigen Kapitulation, zum sofortigen bedingungslosen
Einwilligen in die Intention von A. Nur deswegen und erst dann beginnt "Krieg".
Ein Konflikt muss nicht unbedingt gewalttätig sein. Es gibt verbale Konflikte. Oder
nonverbale ohne Gewaltanwendung. Dazu gehört, wenn ich mir gegen den Willen eines anderen
überraschend nehme, was ihm gehört. Er könnte es mir zurückgeben, dann wäre die Sache
halbwegs erledigt. Aber das will er nicht. Nur deswegen geht es in die nächste Runde.
Innerstaatlich erwarten wir in so einem Fall nicht die Kapitulation des Bestohlenen (als
Opfer soll man ihn ja nicht bezeichnen). Das ist ein Fall fürs Gewaltmonopol. Auch damit
so etwas über den Einzelfall hinaus nicht Schule macht. Und das gilt m.E. sowohl
hinsichtlich der Bewertung als auch hinsichtlich der Folgen einer Duldung eines Diebstahls
auch im Verhältnis zwischen Staaten. Wenn man die Welt den Wölfen überlässt, lassen sie
sich nicht lange bitten.
Daß die radikal kriegsvermeidende Alternative des sofortigen Nachgebens so unbeliebt und
unwahrscheinlich ist, liegt wohl daran, daß sie immer moralisch überformt ist; sie gilt
als "ehrlos" und "feige" (und ist daher v.a. religiös zu
plausibilisieren, nur für "Märtyrer", die keine "innerweltlichen"
Ehrbegriffe kennen usw.). Aber das hängt eben auch damit zusammen, daß man sich bei
Gewaltausübung so schwer tut, sie als "professionelles (wohlabgewägtes,
entemotionalisiertes, nüchternes) Handeln" zu verstehen. Ein
"professioneller" Gewaltanwender würde nicht nach "Ehre" und
"Gefühl" entscheiden, sondern rein rational, nach den Erfolgschancen und
prognostizierbaren Gewinn-Verlust-Bilanzen. Die Sofort-Kapitulation erscheint dann ohne
weiteres als vernünftige Option. (Deswegen erscheint sie ja auch bei ganz klaren
übersichtlichen Entscheidungssituationen - wie sie der klassische nächtlichen Raubmörder
formuliert: "Geld-oder-Leben" - sofort einsichtig; sobald Risikokalküle
schwieriger werden, wird das Kapitulieren unattraktiver und Selbstverteidigung scheinbar
zur "Pflicht", und zum "Recht").
Dass man nicht in eine Schlacht zieht, die man nicht gewinnen kann, ist doch
nachvollziehbar. Am liebsten würde ich das Wort "Schlacht" überhaupt nicht in
den Mund nehmen, wenn es sich vermeiden liesse. Wenn schon, dann nicht dilletantisch, das
sehe ich auch so.
Das "Recht", auf das dann immer gern als
Retter in Gewaltverhältnissen und ultimativer Anhaltspunkt verwiesen wird, spielt daher
eine ambivalente Rolle: es verhindert, oder reduziert zumindest rein rationales
Chancen-Abwägen im je konkreten EInzelfall. Aber für den Angegriffenen ist doch weitaus
wichtiger als die Frage, ob er ein "Recht" hat, sich zu verteidigen, die, ob
Verteidigung per Gegengewalt für ihn (in dieser Situation) "sinnvoll" und
erfolgsversprechend ist. Über das Recht kann man irgendwann nachher "vor
Gericht" debattieren, wenn man mag. Zuerst heißt es " à la guerre comme à la
guerre". Und das schließt die Kriegsvermeidungsstrategie ein.
JL
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: ingo_mack über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Dienstag, 16. Juli 2024 17:44
An: Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: ingo_mack <ingo_mack(a)web.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
hallo Claus:)
bist du ganz sicher, daß sich Herr Clausewitz
sich eingehender mit dem Henne-Ei-Problem herumgeschlagen hat?
wenn Gewalttaten (konsequent) auf ihre Ursprünge zurückgeführt werden
bist du ruck-zuck beim Brudermord und der hat schlicht nur gefragt,
warum er seines Bruders Hüter sein soll.
ist Notlüge auch eine Form von Gewalt?
Am 16.07.24 um 16:58 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb:
An dem Clausewitz-Zitat gefällt mir nicht, dass,
wer sich verteidigt,
damit als Angreifer dastehen könnte. Das wird als Täter-Opfer-Umkehr
bezeichnet und wäre eine Riesenschweinerei. Man könnte es aber auch so
verstehen, dass damit ohne Schuldzuschreibung nur gesagt wird, dass
die Verteidigung in der Regel der erste Schritt zu längeren Kämpfen
sein wird, weil der Angreifer seine Gewaltbereitschaft ja schon
gezeigt hat.
_______________________________________________
PhilWeb Mailingliste -- philweb(a)lists.philo.at Zur Abmeldung von
dieser Mailingliste senden Sie eine Nachricht an
philweb-leave(a)lists.philo.at
_______________________________________________
PhilWeb Mailingliste -- philweb(a)lists.philo.at Zur Abmeldung von dieser Mailingliste
senden Sie eine Nachricht an philweb-leave(a)lists.philo.at
_______________________________________________
PhilWeb Mailingliste -- philweb(a)lists.philo.at
Zur Abmeldung von dieser Mailingliste senden Sie eine Nachricht an
philweb-leave(a)lists.philo.at